Storys aus dem Deutschen Alltag 1989 - 2008 - Storyal
Storys aus dem Deutschen Alltag 1989 - 2008 - Storyal
Storys aus dem Deutschen Alltag 1989 - 2008 - Storyal
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Der S-Bahn-Ring<br />
Trockenrasierer geschmuggelt habe. Ein stromlinienförmiger<br />
Rasierer von Philipps, rotierende<br />
Schermesser, weiss. Dazu ein weiss-blaues, ovales,<br />
aufklappbares Etui – herrlich! Dieses Wunder der<br />
West-Technik habe ich hier in der Heinrich-Heine-<br />
Strasse durch die Vopo-Kontrolle geschmuggelt.<br />
Bei einer Kontrolle wäre der Rasierapparat für ca.<br />
80 DM gleich 400 (!) Mark der DDR konfisziert<br />
worden. Gleichzeitig wäre meine Hochschule in<br />
Karl-Marx-Stadt über diesen Vorgang brühwarm informiert<br />
worden und ich hätte als Student grossen<br />
Ärger bekommen.<br />
Als ich erfolgreich den Rasierapparat in den Osten<br />
geschmuggelt hatte, setzte ich mich erleichtert in<br />
den ‚Elefant‘, eine Gaststätte, die hier direkt am U-<br />
Bahn-Ausgang lag und heute nicht mehr existiert.<br />
Bei einem Bier für Ostgeld habe ich mich voller<br />
Wonne (unter <strong>dem</strong> Tisch) davon überzeugt, dass ich<br />
jetzt tatsächlich Besitzer eines wunderbaren West-<br />
Rasierers war. Das muss 1957 gewesen sein, vielleicht<br />
auch im Herbst oder Winter, es war ein Wetter<br />
wie heute! Mit diesem Rasierapparat habe ich mich<br />
die ganze Studentenzeit über täglich rasiert. Keiner<br />
hatte so einen schönen Rasierer, wie ich. Er war ein<br />
Statussymbol, wie heute vielleicht ein Handy ...<br />
Auch heute steige ich bei der Station Heinrich-Heine-<br />
Strasse <strong>aus</strong>. Die U-Bahnstation sieht noch genau so<br />
<strong>aus</strong>, wie vor 40 Jahren. Die gleichen Kacheln an der<br />
Wand, die Stationsschilder mit der altertümlichen<br />
Schrift, die Stuckdecke. Der lange, gekachelte Gang,<br />
vorne, auf der rechten Seite, führt nach oben. Er endet<br />
neben <strong>dem</strong> ehemaligen ‚Elefant‘ auf der Strasse.<br />
Ein schmiedeeisernes Gitter, quadratische Felder.<br />
Damit wird die U-Bahn nach Mitternacht für ein<br />
paar Stunden dicht gemacht.<br />
Auch dieses Gitter ist mindestens 50, vielleicht auch<br />
80 Jahre alt. Ich war zu DDR-Zeiten einer der wenigen<br />
Passanten der wusste, dass hinter diesem Gitter<br />
eine U-Bahnstation lag. Das Gitter war immer zu<br />
sehen, die Treppe dahinter war zugemauert. Kaum<br />
jemand aber wusste noch, dass da unten die U-Bahn<br />
ohne Halt vom Moritzplatz durch Ostberlin und unter<br />
<strong>dem</strong> Alex durch nach Wittenau fuhr. Eine völlig<br />
irreale, eine gespenstische Situation.<br />
Die Teilung von Berlin war von Betonköpfen ohne<br />
Verstand in Ost und West provoziert worden und<br />
von 1961 bis <strong>1989</strong> nur mit der Mauer und mit Gewalt<br />
aufrecht zu erhalten. In der Nacht vom 10. auf<br />
den 11. November <strong>1989</strong> sah ich eine Station weiter,<br />
an der Jannowitzbrücke, wie dort die vermauerten<br />
Treppen zur U-Bahn durch Bauarbeiter aufgebrochen<br />
wurden. Erst bei diesem Anblick wurde mir<br />
richtig klar, welche Dimensionen der politische Erdrutsch<br />
hat, für den die gerade erfolgte Maueröffnung<br />
die Initialzündung war.<br />
Heute, fast genau 8 Jahre nach <strong>dem</strong> Fall der Mauer,<br />
wurde ein kleiner Schaden des kalten Krieges repariert.<br />
Es gibt noch viel mehr zu tun und es wird noch<br />
Jahrzehnte dauern, bis die Spätfolgen des kalten<br />
Krieges beseitigt sind.<br />
Es gibt nicht mehr viele Leute, die sich daran begeistern<br />
können, dass der ‚Ring‘ nun wieder geschlossen<br />
ist. Das ist nicht verwunderlich, denn dazu muss<br />
man sein Leben hinter der Mauer verbracht haben.<br />
Ohne es zu wollen wird man in solchen Situationen<br />
zum Zeitzeugen. Aber ich hätte gerne auf diese 40<br />
Jahre Erfahrungen mit <strong>dem</strong> realen Sozialismus verzichtet.<br />
55