Storys aus dem Deutschen Alltag 1989 - 2008 - Storyal
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Silvester <strong>1989</strong><br />
Silvester am Brandenburger Tor<br />
In den ersten Wochen nach <strong>dem</strong> Mauerfall geht es<br />
um die Frage, wie es in der DDR weitergehen soll.<br />
Es gibt kein Konzept dafür. Die Bundesregierung hat<br />
zwar ein Innerdeutsches Ministerium, aber keinen<br />
Plan X in der Schublade für den Fall, der jetzt eingetreten<br />
ist. Das ist mir bis heute völlig schleierhaft.<br />
Die Bundesrepublik hatte mit der DDR intensive<br />
Handelsbeziehungen und sie muss über die desolate<br />
Lage der DDR-Finanzen im Detail informiert gewesen<br />
sein. Die Implosion des Sozialistischen Lagers<br />
und der DDR hatte rein wirtschaftliche Gründe. Die<br />
DDR konnte einfach ihr sehr soziales Gesellschaftssystem<br />
nicht mehr finanzieren, weil die Ausgaben<br />
(um die Bevölkerung bei Laune und ruhig zu halten)<br />
viel grösser waren als die Einnahmen. Die Wirtschaft<br />
der DDR war gegenüber der in der Bundesrepublik<br />
absolut nicht konkurrenzfähig. Jetzt bildeten sich<br />
runde Tische um zu diskutieren, wie es weiter gehen<br />
soll. Niemand in meinem Umfeld redet von der<br />
Wiedervereinigung. Wir kennen zwar die Bundesrepublik<br />
nur <strong>aus</strong> <strong>dem</strong> Fernsehen, aber uns allen ist klar,<br />
der schöne Schein trügt, DIESES System wollen wir<br />
auch nicht! Wir wollen eine reformierte DDR. Aus<br />
diesem Zusammenhang her<strong>aus</strong> ist auch ein Aushang<br />
zu verstehen, den ich am 07. Dezember <strong>1989</strong> in der<br />
Hochschule an die Schwarzen Bretter hänge: ‚Ich<br />
fordere die Auflösung der SED.‘ Mir ging es in erster<br />
Linie darum, dass diese entsetzliche Partei, die<br />
Menschen verkauft und mit Waffen gehandelt, aber<br />
immer das Gegenteil behauptet hat, dass diese Partei<br />
aufgelöst wird und eine von der SED unabhängige<br />
Regierung installiert wird. Das ist natürlich alles<br />
blanke Illusion. Die SED und ihre alten Kader, die<br />
immer noch an der Macht sind, haben die besseren<br />
Karten. Das SED-Vermögen muss gerettet werden,<br />
dazu wird die SED schon am 04. Februar 1990 in<br />
PDS umbenannt.<br />
Noch bin ich Mitglied der SED. Mit Helga diskutiere<br />
ich, wann wir <strong>aus</strong>treten. Ich will so lange wie<br />
möglich in der Partei bleiben, weil man in den Mitgliederversammlungen<br />
fasziniert zusehen kann, wie<br />
sich Fraktionen bilden und wie sich diese Partei auflöst.<br />
Kormann ist der Parteichef der Sektion Kunst,<br />
er sitzt vorne im Präsidium und vor ihm im Hörsaal<br />
sitzen 120 Parteimitglieder. Die meisten aufgebracht<br />
und erregt, weil Kormann die Tagesordnung<br />
abspulen will, die vor einem Jahr schon festgelegt<br />
wurde. Die Mitglieder aber wollen die aktuelle Lage<br />
diskutieren. Genossin Professor Bertag, die Chefin<br />
aller Gesellschaftswissenschaftler der Burg Giebichenstein,<br />
äussert sich abfällig zu den Massen, die<br />
am Wochenende mit ihren Trabbis über die Grenze<br />
fahren (und am Montag wieder pünktlich zur Arbeit<br />
erscheinen!). Ein Sturm der Entrüstung. Auch ich<br />
halte eine Gegenrede mit <strong>dem</strong> Tenor: ‚Sie und die<br />
gesamte Partei, Ihr habt immer noch nicht begriffen,<br />
was hier eigentlich passiert: Das Volk hat genug von<br />
Euren hohlen Reden. Ihr könnt gehen und froh sein,<br />
dass das alles unblutig abläuft.‘<br />
Am 11. Dezember <strong>1989</strong> gehe ich mit meinem Austrittsschreiben<br />
und <strong>dem</strong> roten Parteibuch zu Hoßfeld<br />
in die Parteileitung. ‚Du auch?!‘, empfängt er mich.<br />
‚Ja, ich auch. Aber ich gebe Dir nur meine Austrittserklärung.<br />
Das ‚Dokument‘ werde ich meinem Sohn<br />
vermachen. In das Parteibuch habe ich hinten für ihn<br />
eine Empfehlung eingetragen: Werde nie Mitglied<br />
einer Partei!‘ Ich zeige ihm die Empfehlung und er<br />
kann es gar nicht fassen, dass ich ihm das Parteibuch<br />
nicht zurück geben will. ‚Aber das Dokument ist<br />
doch Eigentum der Partei, der Du jetzt nicht mehr<br />
angehören willst!!‘ ‚Damit musst Du leben. Das rote<br />
Parteibuch bekommt mein Sohn und Dir gebe ich<br />
meine Austrittserklärung.‘ Der Mann tut mir leid. Er<br />
nie ein sturer Parteisoldat, auch kein ‚guter Genosse‘,<br />
kein gläubiger Kommunist. Auch dieser Parteisekretär<br />
war ein Opportunist. Damit hatte er Karriere in<br />
der Partei gemacht und jetzt steht er auf völlig verlorenem<br />
Posten. Das Pferd, auf das er gesetzt hat,<br />
bricht zusammen. Die Mitglieder treten im Dezember<br />
scharenweise <strong>aus</strong> der Partei <strong>aus</strong>. Helga ist schon<br />
14 Tage vor mir <strong>aus</strong>getreten.<br />
Die Wochen zwischen Mauerfall und Jahresende sind<br />
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