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Storys aus dem Deutschen Alltag 1989 - 2008 - Storyal

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November 1996<br />

Die Freiheit, sich täglich zu verkaufen<br />

‚Hier in New York fühle ich mich am ehesten zu<br />

H<strong>aus</strong>e, denn hier ist das wahre Leben. Jeder weiss<br />

hier, dass er eine Rolle zu spielen hat. Und jeder<br />

spielt sie gut, verdammt gut. Jeder muss sich verkaufen,<br />

gut verkaufen, jeden Tag. Keiner kümmert sich<br />

um Deine Probleme. Warum auch? Es sind ja Deine<br />

Probleme. Keiner hilft Dir hier. Aber Du kannst hier<br />

sehr gut lernen, wie Du Dir alleine helfen kannst<br />

und dass nur Du Dir helfen kannst.‘ Wolfgang Joop,<br />

heute um 18:35 bei RTL Explosiv.<br />

Joop ist ein erfolgreicher Designer und Mo<strong>dem</strong>acher.<br />

Nach seinen eigenen Worten ist Joop eitel, exhibitionistisch,<br />

schwul, bisexuell und geschäftlich sehr<br />

erfolgreich. So muss man sein, wenn man in dieser<br />

Gesellschaft einen Platz an der Sonne haben will.<br />

Auf keinen Fall ist es das Feeling der Ossis. Im Gegenteil.<br />

Mindestens zwei Generationen müssen erst<br />

sterben, bis die Ossis von den in 40 Jahren Notgemeinschaft<br />

gewachsenen Wertvorstellungen lassen<br />

können. Wir haben einfach nicht in der gleichen<br />

Welt gelebt! Andere Lebensumstände erfordern<br />

auch andere Werte.<br />

Wer dann in eine Gesellschaft hineingeworfen wird,<br />

in der materieller Überfluss, extreme persönliche<br />

Freiheit und Reichtum dominieren, ist kurzfristig<br />

nicht in der Lage, auf die neuen Werte umzuschalten.<br />

Auch ich habe mehr materielle Güter, als ich brauche,<br />

ich bin persönlich frei, wie nie zuvor und für meine<br />

Begriffe mit meinen fast 5.000 DM monatlich auch<br />

reich. Trotz<strong>dem</strong> kann ich nicht nur für den täglich<br />

neuen ‚ultimativen Kick‘ und so leben, als ob ich alleine<br />

auf dieser Welt wäre. Ich will mich nicht täglich<br />

verkaufen. Ich will mich überhaupt nicht verkaufen.<br />

Nicht einmal in der DDR war es nötig, sich täglich<br />

zu prostituieren. Ausser<strong>dem</strong> ist mir gerade nicht total<br />

scheissegal, was neben mir und mit meinen Mitmenschen<br />

passiert. Ich kann das nicht, ich will das<br />

nicht und ich werde es in meinem Leben auch nicht<br />

mehr lernen.<br />

Wieder ein interessanter Artikel im SPIEGEL<br />

45/1996: Heute ist wieder einmal der 9. November.<br />

Aus diesem Anlass wird untersucht, welche Differenzen<br />

in den Wertvorstellungen von Ost und West<br />

trotz nomineller Einheit noch bestehen.<br />

Abschätzig wird festgestellt, dass die Ossis nichts<br />

von persönlicher Freiheit, aber viel von Solidarität<br />

und sozialer Sicherheit halten. Die Wessis haben<br />

nach <strong>dem</strong> Krieg von den Amerikanern gelernt, dass<br />

persönliche Freiheit, Pressefreiheit, freie Wahl der<br />

Partei und die Mitbestimmung die höchsten Werte<br />

dieser Gesellschaft sind. So muss es sein und nur das<br />

ist die ‚richtige‘ Sicht auf diese Welt.<br />

Im sozialistischen Sprachgebrauch könnte man sagen,<br />

wir Ossis haben noch nicht den richtigen Klassenstandpunkt,<br />

sind noch keine ‚guten Genossen‘<br />

in ‚diesem unseren‘ neuen Staat geworden. Wir sind<br />

noch nicht auf die neuen ideologischen Linie dieser<br />

Bundesrepublik eingeschwenkt. Und Vorsicht ist<br />

trotz aller Freiheit geboten: Wenn man hier seinen<br />

Kopf benutzt, bekommt man die gleichen Schwierigkeiten,<br />

wie im Sozialismus. Nur die Farbe ist anders:<br />

Schwarz statt Rot:<br />

Wer hat denn hier wirklich persönlich die Freiheit,<br />

das zu tun oder zu lassen, was er möchte? Was nutzt<br />

die Pressefreiheit, was hat es für einen Sinn, zu einer<br />

‚freien Wahl‘ zu gehen? Wer bestimmt in diesem de<br />

jure <strong>dem</strong>okratischen Staat? Ja, es geht alles <strong>dem</strong>okratisch<br />

zu, keine Frage. Aber deswegen regiert doch<br />

nicht etwa das Volk mit Hilfe der Demokratie diesen<br />

Staat!? Über die Macht verfügen weder die Mehrheit,<br />

noch die gewählten ‚Organe‘ (Zentralorgan !!) dieser<br />

Gesellschaft. Nur Geld bedeutet auch tatsächlich<br />

Macht. Freiheit existiert ohne Geld nicht. Demokratie<br />

und Gewaltenteilung sind wie der Sozialismus<br />

schöne Utopien. Nur lebt es sich für Klein Mäxchen<br />

deutlich besser unter einem solchen System.<br />

Und genau mit der Heilsgewissheit des Herr v.<br />

Schnitzler werden wir jetzt belehrt, was wir unter<br />

Freiheit zu verstehen haben und was die richtigen<br />

Werte dieser einzig wahren Gesellschaft sind.<br />

DANKE !<br />

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