31.10.2013 Aufrufe

Storys aus dem Deutschen Alltag 1989 - 2008 - Storyal

Storys aus dem Deutschen Alltag 1989 - 2008 - Storyal

Storys aus dem Deutschen Alltag 1989 - 2008 - Storyal

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Offener Brief an J.K.<br />

Dabei bemühe ich mich, emotionale Regungen<br />

durch Vernunft zu unterdrücken. Hass und Zorn<br />

helfen nicht, denn durch nichts und von keinem<br />

ist meine und unsere Vergangenheit rückgängig zu<br />

machen. Das einzigste was ich will, ist zu erkennen,<br />

warum die Geschichte so und nicht anders abgelaufen<br />

ist und welche Lehren man seinen Kindern und<br />

Enkeln dar<strong>aus</strong> vermitteln sollte.<br />

Wenn ich mich unter dieser Sicht frage, was die<br />

entscheidenden Fehler waren, die Ihnen und Ihren<br />

mächtigen Freunden unterlaufen sind, dann sind<br />

von den hunderten von Fehlern drei entscheidend:<br />

Am beschränkten Weltbild festgehalten<br />

Sie hatten die Macht und den Willen, die Marx‘sche<br />

Vision von einer besseren Gesellschaftsordnung in<br />

die Realität umzusetzen. Sie haben die Welt immer<br />

durch die Brille von Marx gesehen und parteilich<br />

nur das wahrgenommen, was sie sehen wollten. Sie<br />

haben nicht bemerkt, dass die heutige Welt nicht die<br />

von Marx ist und ganz andere Wertigkeiten von entscheidender<br />

Bedeutung sind. Spätestens seit den 60-<br />

er Jahren gibt es ein Bewusstsein dafür, dass globale<br />

Probleme die menschliche Existenz bedrohen. Hätten<br />

Sie - wie immer behauptet - die fortschrittlichste<br />

Gesellschaftsordnung repräsentiert, wäre diese Erkenntnis<br />

von Ihnen gekommen. Mindestens hätten<br />

Sie dieses Problem sofort aufgreifen und Lösungsvarianten<br />

entwickeln müssen. Genau das Gegenteil<br />

ist geschehen. Sie haben die globale Sicht nie gehabt,<br />

sie haben Lösungsansätze bekämpft (Club of Rome,<br />

Null-Wachstum) und erst recht keine Kontrastrategien<br />

entwickelt. Die Beschränkung auf Marx führt<br />

zwangläufig zu Ihrer eigenen Beschränktheit.<br />

Mir ist auch völlig unverständlich, warum in Ihren<br />

Schriften die Philosophie kaum eine Rolle spielt. Ich<br />

kann mich nicht erinnern, in Ihren Büchern je den<br />

Begriff ‚Dialektischer Materialismus‘ gefunden zu<br />

haben. Zumindestens spielt er in Ihrem Denken keine<br />

Rolle. Sicher werden Sie das vehement bestreiten.<br />

Aber: Wie kann man solche gravierenden Fehler machen<br />

und gleichzeitig behaupten, auf der Grundlage<br />

des Dialektischen Materialismus zu handeln? Ich<br />

nehme vielmehr an, Sie haben sehr zeitig bemerkt,<br />

dass man diese Philosophie nur schwer oder überhaupt<br />

nicht für ideologische Tagesprobleme instrumentalisieren<br />

kann. Wahrscheinlich haben Sie Ihren<br />

seltsamen Begriff von Wissenschaftlichkeit gerade<br />

deshalb so strapaziert. In den letzten Jahren habe ich<br />

nur noch darauf gewartet, dass diese Philosophie<br />

auf den Index gesetzt wurde, denn jeder Oberschüler<br />

konnte damit Ihre Tagespolitik <strong>aus</strong> den Angeln<br />

heben. Mindestens in den letzten 10 Jahren gab es<br />

in der DDR keine Philosophie mehr, sondern nur<br />

noch Ideologie.<br />

Diese beiden Faktoren, Marx statt aktueller, globaler<br />

Sicht und Ideologie statt Geisteswissenschaft haben<br />

zu einem beschränkten Weltbild geführt, das früher<br />

oder später an seinen eigenen Widersprüchen scheitern<br />

musste. Aber Ihnen sind noch weitere Fehler<br />

unterlaufen:<br />

Sie haben Marx nicht weiterentwickelt. Wo ist die<br />

Analyse der gesellschaftlichen Realität der letzten 50<br />

oder auch nur der letzten 20 Jahre ? Die gibt es, aber<br />

sie stammt nicht von Marxisten. Als Literatur kann<br />

ich Ihnen dazu u.a. empfehlen: Brown u.a., STATE<br />

OF THE WORLD 1992, Worldwatch Institute, 1776<br />

Massachusetts Ave., N.W. Washington, D.C. 20036<br />

An die Stelle gesellschaftlicher Ideale haben Sie<br />

Dogmen gesetzt, die mit der Realität nicht übereinstimmten.<br />

An sie hatte man zu ‚glauben‘, rational<br />

waren sie nicht zu erklären: Die ehemalige Vision<br />

war zur Ideologie und zum Religionsersatz verkommen.<br />

Sie haben von Anfang an ganz offen auf ein diktatorisches<br />

Regime gesetzt (Diktatur des Proletariats).<br />

Auf <strong>dem</strong>okratische und auf intelligente, selbstregelnde<br />

Mechanismen haben Sie verzichtet. Für eine<br />

erste Übergangszeit ist das vielleicht zu tolerieren.<br />

Es ist aber überhaupt nicht einzusehen, warum sich<br />

Sozialismus und Demokratie <strong>aus</strong>schliessen sollen.<br />

Im Gegenteil.<br />

Aber das sind Folgeerscheinungen ihres eingeschränkten<br />

Weltbildes. In der Summe ist die hehre<br />

Idee von einer sozial gerechten Gesellschaftsordnung<br />

durch den ‚Real existierenden Sozialismus‘ irreparabel<br />

diskreditiert worden.<br />

System für nicht existierende Menschen<br />

Eines der am meisten gebrauchten Schlagwörter in<br />

der DDR war die Floskel: Im Mittelpunkt steht der<br />

Mensch. In zweierlei Hinsicht wurde dieser Grundsatz<br />

von der Tagespolitik ins Gegenteil verkehrt:<br />

Die Tatsache, dass ein ‚Neuer Mensch‘ Vor<strong>aus</strong>setzung<br />

für das Funktionieren des Sozialismus ist,<br />

macht ihn zur gesellschaftlichen Utopie. Offensicht-<br />

23

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!