Storys aus dem Deutschen Alltag 1989 - 2008 - Storyal
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Offener Brief an J.K.<br />
Dabei bemühe ich mich, emotionale Regungen<br />
durch Vernunft zu unterdrücken. Hass und Zorn<br />
helfen nicht, denn durch nichts und von keinem<br />
ist meine und unsere Vergangenheit rückgängig zu<br />
machen. Das einzigste was ich will, ist zu erkennen,<br />
warum die Geschichte so und nicht anders abgelaufen<br />
ist und welche Lehren man seinen Kindern und<br />
Enkeln dar<strong>aus</strong> vermitteln sollte.<br />
Wenn ich mich unter dieser Sicht frage, was die<br />
entscheidenden Fehler waren, die Ihnen und Ihren<br />
mächtigen Freunden unterlaufen sind, dann sind<br />
von den hunderten von Fehlern drei entscheidend:<br />
Am beschränkten Weltbild festgehalten<br />
Sie hatten die Macht und den Willen, die Marx‘sche<br />
Vision von einer besseren Gesellschaftsordnung in<br />
die Realität umzusetzen. Sie haben die Welt immer<br />
durch die Brille von Marx gesehen und parteilich<br />
nur das wahrgenommen, was sie sehen wollten. Sie<br />
haben nicht bemerkt, dass die heutige Welt nicht die<br />
von Marx ist und ganz andere Wertigkeiten von entscheidender<br />
Bedeutung sind. Spätestens seit den 60-<br />
er Jahren gibt es ein Bewusstsein dafür, dass globale<br />
Probleme die menschliche Existenz bedrohen. Hätten<br />
Sie - wie immer behauptet - die fortschrittlichste<br />
Gesellschaftsordnung repräsentiert, wäre diese Erkenntnis<br />
von Ihnen gekommen. Mindestens hätten<br />
Sie dieses Problem sofort aufgreifen und Lösungsvarianten<br />
entwickeln müssen. Genau das Gegenteil<br />
ist geschehen. Sie haben die globale Sicht nie gehabt,<br />
sie haben Lösungsansätze bekämpft (Club of Rome,<br />
Null-Wachstum) und erst recht keine Kontrastrategien<br />
entwickelt. Die Beschränkung auf Marx führt<br />
zwangläufig zu Ihrer eigenen Beschränktheit.<br />
Mir ist auch völlig unverständlich, warum in Ihren<br />
Schriften die Philosophie kaum eine Rolle spielt. Ich<br />
kann mich nicht erinnern, in Ihren Büchern je den<br />
Begriff ‚Dialektischer Materialismus‘ gefunden zu<br />
haben. Zumindestens spielt er in Ihrem Denken keine<br />
Rolle. Sicher werden Sie das vehement bestreiten.<br />
Aber: Wie kann man solche gravierenden Fehler machen<br />
und gleichzeitig behaupten, auf der Grundlage<br />
des Dialektischen Materialismus zu handeln? Ich<br />
nehme vielmehr an, Sie haben sehr zeitig bemerkt,<br />
dass man diese Philosophie nur schwer oder überhaupt<br />
nicht für ideologische Tagesprobleme instrumentalisieren<br />
kann. Wahrscheinlich haben Sie Ihren<br />
seltsamen Begriff von Wissenschaftlichkeit gerade<br />
deshalb so strapaziert. In den letzten Jahren habe ich<br />
nur noch darauf gewartet, dass diese Philosophie<br />
auf den Index gesetzt wurde, denn jeder Oberschüler<br />
konnte damit Ihre Tagespolitik <strong>aus</strong> den Angeln<br />
heben. Mindestens in den letzten 10 Jahren gab es<br />
in der DDR keine Philosophie mehr, sondern nur<br />
noch Ideologie.<br />
Diese beiden Faktoren, Marx statt aktueller, globaler<br />
Sicht und Ideologie statt Geisteswissenschaft haben<br />
zu einem beschränkten Weltbild geführt, das früher<br />
oder später an seinen eigenen Widersprüchen scheitern<br />
musste. Aber Ihnen sind noch weitere Fehler<br />
unterlaufen:<br />
Sie haben Marx nicht weiterentwickelt. Wo ist die<br />
Analyse der gesellschaftlichen Realität der letzten 50<br />
oder auch nur der letzten 20 Jahre ? Die gibt es, aber<br />
sie stammt nicht von Marxisten. Als Literatur kann<br />
ich Ihnen dazu u.a. empfehlen: Brown u.a., STATE<br />
OF THE WORLD 1992, Worldwatch Institute, 1776<br />
Massachusetts Ave., N.W. Washington, D.C. 20036<br />
An die Stelle gesellschaftlicher Ideale haben Sie<br />
Dogmen gesetzt, die mit der Realität nicht übereinstimmten.<br />
An sie hatte man zu ‚glauben‘, rational<br />
waren sie nicht zu erklären: Die ehemalige Vision<br />
war zur Ideologie und zum Religionsersatz verkommen.<br />
Sie haben von Anfang an ganz offen auf ein diktatorisches<br />
Regime gesetzt (Diktatur des Proletariats).<br />
Auf <strong>dem</strong>okratische und auf intelligente, selbstregelnde<br />
Mechanismen haben Sie verzichtet. Für eine<br />
erste Übergangszeit ist das vielleicht zu tolerieren.<br />
Es ist aber überhaupt nicht einzusehen, warum sich<br />
Sozialismus und Demokratie <strong>aus</strong>schliessen sollen.<br />
Im Gegenteil.<br />
Aber das sind Folgeerscheinungen ihres eingeschränkten<br />
Weltbildes. In der Summe ist die hehre<br />
Idee von einer sozial gerechten Gesellschaftsordnung<br />
durch den ‚Real existierenden Sozialismus‘ irreparabel<br />
diskreditiert worden.<br />
System für nicht existierende Menschen<br />
Eines der am meisten gebrauchten Schlagwörter in<br />
der DDR war die Floskel: Im Mittelpunkt steht der<br />
Mensch. In zweierlei Hinsicht wurde dieser Grundsatz<br />
von der Tagespolitik ins Gegenteil verkehrt:<br />
Die Tatsache, dass ein ‚Neuer Mensch‘ Vor<strong>aus</strong>setzung<br />
für das Funktionieren des Sozialismus ist,<br />
macht ihn zur gesellschaftlichen Utopie. Offensicht-<br />
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