Storys aus dem Deutschen Alltag 1989 - 2008 - Storyal
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Juli 1999<br />
10 Jahre nach <strong>dem</strong> Fall der Mauer<br />
Es ist kaum zu fassen, aber es sind schon wieder<br />
zehn Jahre vergangen, seit die DDR implodiert ist.<br />
Welche Gedanken stellen sich bei mir heute ein,<br />
wenn ich an den Fall der Mauer denke?<br />
Zuerst muss klargestellt werden, dass jede derartige<br />
Bilanz nur subjektiv sein kann. Das gilt auch für die<br />
offiziellen Rückblenden, mit denen uns die Medien<br />
im November überschütten. Es ist sehr schwierig,<br />
objektiv und distanziert Rückschau zu halten. Wir<br />
sind alle noch viel zu sehr persönlich in diese Geschichte<br />
involviert.<br />
Wenn ich heute an die DDR denke, stellt sich als<br />
erstes ein Gefühl der Erleichterung ein, dass diese<br />
Zeit vorbei ist. Gleich danach beglückwünsche<br />
ich mich dazu, dass dieses bornierte System nicht<br />
zwanzig Jahre später zusammengebrochen ist. Hätten<br />
die ‚guten Genossen‘ etwas geschickter agiert, so<br />
hätte alles durch<strong>aus</strong> noch viele Jahre länger dauern<br />
können. So aber hatten wir im Osten Deutschlands<br />
endlich mal richtig Schwein. Dazu gehört auch, dass<br />
wir - im Gegensatz zu Polen, Russen, Bulgaren und<br />
anderen ehemaligen Ostblockländern - im Westen<br />
reiche ‚Brüder und Schwestern‘ hatten, die uns alimentiert<br />
haben.<br />
Das beste am Systemwechsel ist für mich der Pluralismus<br />
und das nie für möglich gehaltene Ausmass<br />
der damit verbundenen Freiheit. Beides kann man<br />
allerdings nur nutzen, wenn man eine konvertierbare<br />
Währung in der Tasche hat. Und wir ehemaligen<br />
DDR-Bürger haben ‚Westgeld‘ im Portemonnaie!<br />
Noch bis vor zwei bis drei Jahren ist mir das immer<br />
mal wieder freudestrahlend aufgefallen, wenn ich<br />
dieses Geld in meiner Hosentasche klimpern hörte.<br />
Solange sich der kleine Mann in Deutschland den<br />
Pluralismus leisten kann, leben wir im besten Gesellschaftssystem,<br />
das mit der heute existierenden Sorte<br />
von Menschen auf dieser Welt machbar ist. Für<br />
mich heisst Pluralismus: Ich kann denken, sagen und<br />
machen was ich will, solange ich es mir finanziell<br />
leisten kann und nicht gegen existierende (recht liberale)<br />
Gesetze verstosse. Dazu kann man auch Frei-<br />
heit sagen, ein Begriff, mit <strong>dem</strong> ich zu DDR-Zeiten<br />
überhaupt nichts anfangen konnte.<br />
Immer wenn im RIAS die Freiheitsglocke läutete<br />
und der pathetische Spruch von der ‚unantastbaren<br />
Würde jedes einzelnen Menschen‘ über den Äther<br />
in die DDR schwappte, war das für mich genau so<br />
eine ‚Losung‘, wie sie zu T<strong>aus</strong>enden überall in der<br />
DDR an den Wänden hingen und solche Plattheiten<br />
verkündeten wie ‚Im Mittelpunkt steht der Mensch‘.<br />
Erst auf meinen Reisen wurde mir klar, dass es Freiheit<br />
wirklich gibt. Wenn man in der Lage ist, sich<br />
von heute auf morgen ein Ticket nach Australien zu<br />
kaufen und sich dann plötzlich mit einem Rucksack<br />
in einem völlig fremden Land wiederfindet, sich<br />
dort aber ganz selbstverständlich und unbeschränkt<br />
bewegen kann, solange man eine gültige CreditCard<br />
besitzt, dann bekommt man ein Gefühl dafür, was<br />
die ‚Freie Welt‘ immer schon unter Freiheit verstanden<br />
hat. Wir waren in der DDR <strong>aus</strong>serstande, zu<br />
diesem Freiheitsbegriff eine Beziehung aufzubauen.<br />
Man kann sich die Totalität dieser Freiheit nicht in<br />
einem Lande vorstellen, das von Mauer und Stacheldraht<br />
umgeben ist und in <strong>dem</strong> man mit der ‚Mark<br />
der DDR‘ bezahlt, auch Alu-Chip genannt. Freiheit<br />
wurde in der DDR mit Karl Marx als Einsicht in<br />
die Notwendigkeit definiert. Und die Notwendigkeit<br />
hiess zu akzeptieren, dass die Fiktion von der<br />
Gleichheit aller Menschen mit Gewalt zur Realität<br />
gemacht worden war.<br />
Schon ein Jahr nach <strong>dem</strong> Fall der Mauer ist es gelungen,<br />
die 17 Millionen armen DDR-Bürger mit soviel<br />
Westgeld zu versorgen, dass sie heute einen besseren<br />
Lebensstandard besitzen, als sie in der DDR je<br />
hatten. Das kombiniert mit <strong>dem</strong> Pluralismus, ist das<br />
Beste, was die Wiedervereinigung Deutschlands geleistet<br />
hat. Die meisten Ostdeutschen wurden durch<br />
den Umbruch der letzten Jahre zu einem kompletten<br />
Neustart gezwungen. Dafür aber war mit Pluralismus<br />
und Westgeld eine brauchbare Basis vorgegeben. In<br />
den meisten Fällen reichen die finanziellen Mitteln<br />
nicht für grosse Unternehmungen <strong>aus</strong>. Grösser als<br />
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