Storys aus dem Deutschen Alltag 1989 - 2008 - Storyal
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Der S-Bahn-Ring<br />
dächtnis eingebrannt hat. Immer, wenn ich in den<br />
vergangenen 46 Jahren (!) vom Treptower Park in<br />
Richtung Osten – zum Beispiel nach Spindlersfeld<br />
– fuhr, wollte ich wenigstens ‚die Weiche‘ sehen. Ich<br />
setzte mich immer rechts hin und gleich nach <strong>dem</strong><br />
Abfahren des Zuges sah man unten eine Weiche und<br />
ein Gleisstück, das nach rechts auf eine Brücke und<br />
ins Niemandsland führte. Nur ich wusste noch, da<br />
geht es nach Neukölln. Immer sah ich mich dort als<br />
Student lang fahren und die grosse Frage war: Wann<br />
wird das endlich wieder möglich sein?<br />
Von Günter war das der schnellste Weg in den Westen:<br />
Von der Frankfurter Allee (damals hiess die<br />
S-Bahnstation Stalinallee) mit <strong>dem</strong> Südring in Richtung<br />
Ostkreuz. Auf <strong>dem</strong> Bahnhof Treptower Park<br />
musste man sich möglichst klein und unauffällig<br />
machen und schon war man in Neukölln. Dort gab<br />
es viele Kinos und eine belebte, brodelnde Einkaufsstrasse,<br />
die Karl-Marx-Allee. Ich kann mich kaum<br />
erinnern, was wir eigentlich <strong>aus</strong>ser Kino und <strong>dem</strong><br />
Einkauf antiquarischer rororo- und Fischer-Büchern<br />
dort gemacht haben, denn wir hatten einfach<br />
kein Geld in der Tasche. Eine Westmark kostete 5<br />
Ostmark. Einmal Kino ca. 1.50 bis 2,50 DM, soviel<br />
wie ein rororo-Buch. Und ich bekam am Anfang<br />
(1955) monatlich 110 Mark Stipendium - natürlich<br />
Ostgeld. Erstaunlich war, dass man damit wirklich<br />
leben konnte. Mit Leistungszulage und <strong>dem</strong> Salaire<br />
für Hilfsassisten habe ich mich in den letzten zwei<br />
Jahren bis auf 240 ‚Mark der DDR‘ gesteigert. Aber<br />
auch damit konnte man in Westberlin keine grossen<br />
Sprünge machen. Und so clever, dort mit Schmuggelware<br />
Geschäfte zu machen, oder in den Ferien zu<br />
arbeiten, waren Günter und ich (<strong>aus</strong> unbegreiflichen<br />
Gründen) nicht.<br />
Heute steige ich in Ostkreuz in die Bahn nach Jungfernheide.<br />
Ob es wieder einen ‚Südring‘ gibt, weiss<br />
ich noch nicht. Ich glaube nicht, denn es gibt auch<br />
keinen ‚Nordring‘ mehr, wie in den 50-er Jahren.<br />
Warum eigentlich nicht? Das war und ist wirklich<br />
anschaulich. Der Zug nach Jungfernheide fährt ein.<br />
Wo ist Jungfernheide?? Die Strecke kann nur über<br />
Neukölln führen, Jungfernheide gibt es im Osten<br />
nicht. Vor Abfahrt des Zuges wird angesagt: ‚Nach<br />
Neukölln einsteigen!‘ Na bitte. Die Türen schliessen<br />
sich (mit Warnton und wesentlich leiser als früher)<br />
und auch jetzt ist die Fahrt in den Westen nicht mehr<br />
aufzuhalten.<br />
Irgendwo hier bin ich 1990 mal über den Bahndamm<br />
dieser Strecke geklettert, als ich <strong>dem</strong> Mauerverlauf<br />
in dieser Gegend mit <strong>dem</strong> Fahrrad gefolgt<br />
bin. Sonnenallee. Dieser Bahnhof war fast 50 Jahre<br />
geschlossen.<br />
In Neukölln steige ich <strong>aus</strong> und gehe durch die S-<br />
Bahnbrücke. Fast ein technisches Denkmal, eine<br />
tolle, genietete Stahlkonstruktion. Bin ich früher je<br />
in diese Richtung gegangen? Ich glaube nicht. Ich<br />
drehe um und laufe die Karl-Marx-Allee hinunter.<br />
Nummer 168. Hier war die Buchhandlung, die im<br />
Obergeschoss ein grosses Antiquariat besass. Viele<br />
Bücher habe ich hier in der Studentenzeit antiquarisch<br />
gekauft, Polgar, Stefan Zweig, Tucholsky. Diese<br />
Schriftsteller waren in der DDR nicht verboten,<br />
aber sie wurden - <strong>aus</strong>ser Tucholsky - nicht verlegt.<br />
Heute ist hier keine Buchhandlung mehr, aber noch<br />
ist über <strong>dem</strong> Eingang schwach zu lesen: SORTI-<br />
MENT UND ANTIQUARIAT. Die Zwischendecke<br />
und die Treppe zum Antiquariat ist <strong>aus</strong>gebaut, hohe<br />
Stuckdecken, ein Schild an der Tür: ‚Gewerberäume<br />
zu vermieten!‘ Ich erkundige mich nebenan beim<br />
Konditor: Ja, seit Februar 1997 hat die Buchhandlung<br />
aufgegeben. Gleich nach der Maueröffnung war<br />
ich wieder hier in dieser Buchhandlung (wieder ohne<br />
Geld!) und habe die besondere Atmosphäre sofort<br />
gespürt. Dann war ich noch ein paar Mal dort und<br />
bei je<strong>dem</strong> Vorbeifahren mit <strong>dem</strong> Fahrrad stellten<br />
sich die gleichen Assoziationen ein: Bücher, rororo,<br />
Westberlin, Westgeld, S-Bahn, Vopos ....<br />
Ich laufe die Karl-Marx-Allee runter bis zum Hermannplatz.<br />
Warum heisst diese Strasse immer noch<br />
Karl-Marx-Allee, während in Ostberlin nach <strong>dem</strong><br />
Mauerfall bereits in mehreren Wellen die Strassennamen<br />
geändert wurden? Weihnachtsrummel. Letzte<br />
Einkäufe. Hektik, Lichter, viele Menschen. Diesig,<br />
Nieselregen, kalt, noch Reste vom Glatteis auf der<br />
Strasse.<br />
Am Hermannplatz steige ich in die U-Bahn und<br />
fahre (mit einem neuen Fahrschein für 3,60 DM, der<br />
alte gilt nur für zwei Stunden) in Richtung Wittenau.<br />
Auch diese Strecke kenne ich <strong>aus</strong> den 50-er Jahren.<br />
Hier war die Station Heinrich-Heine-Strasse die Ostgrenze.<br />
An dieser Station wurde man gefilzt, wenn<br />
man in die Deutsche Demokratischen Republik ‚einreisen‘<br />
wollte.<br />
Mit lebhaften Bildern im Kopf kann ich mich daran<br />
erinnern, dass ich über diese Strecke meinen ersten<br />
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