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Blick auf ihn verbarg. Nichts als entfernte Bewegungen und<br />

nahes Metall. Er konnte ruhen.<br />

Es war Sommer, die Firmen orderten wenig, und die Arbeit<br />

war leicht. So kam er irgendwann auf die Idee, nicht mehr<br />

im Wagen seinen Rausch auszuschlafen, sondern in einem<br />

leeren Regalfach. Das war kühl. Und klein.<br />

»Wo ist denn Harry schon wieder?«<br />

»Keine Ahnung! Aber kuck mal, was ich hier habe, mein<br />

Sarottimohr!« Chris zeigte die Löschblattvierecke.<br />

»Oh nein, nichts für mich, mon ami, so’n Dreck nehm<br />

ich nich’, steck ein …«<br />

»Feigling, Feigling, kleines feiges Negerlein, gib mir mal<br />

die Nummer von deiner Freundin, los!«<br />

Harry lag, von Kartons verborgen, im Regal und beobachtete<br />

ihre wippenden Köpfe, wie sie Richtung Pausenraum verschwanden.<br />

Er ließ sich die Wand hinabrutschen, kletterte<br />

die Verstrebungen des Hochregals entlang auf eine andere<br />

Ebene und holte seine Brote aus einem toten Winkel.<br />

Er aß.<br />

Klack klack. Klack. Die Schuhe des Meisters. »Wo steckt<br />

der denn schon wieder?« Klack. »Herr Rohwald! Pause!«<br />

Harry schob das Päckchen hinter einige Kartons und<br />

schwang sich, möglichst schnell und leise zugleich, das gitterne<br />

Metall hinab. Seine Füße hingen in Augenhöhe, als der<br />

Meister sie erblickte: »Mensch, Rohwald, machen Sie uns<br />

keinen Ärger, da stehen doch überall Leitern rum! Außerdem<br />

ist Frühstück.«<br />

»Wollt bloß schnell ‘n paar von den kleinen Stangen holen.«<br />

»Die liegen doch hier unten auch. Brauchste doch nicht<br />

so rumzuklettern, Junge.« Der Finger zeigte ziemlich tief,<br />

und Harry wusste, dass er diesmal bei den anderen essen würde.<br />

Er war gerade dabei, den Rest der spanischen Lieferung<br />

einzulagern, als Chris und Chihi heranrollten, der eine einen,<br />

der andere zwei Becher in der Hand, lachende, hastige<br />

Balance. Chris war Erster: »Onkel Manfred gibt einen<br />

aus.«<br />

Sie stießen mit ihm an, stellten ihre Becher in ein Regal<br />

und kramten das Kleingeld aus den Hosentaschen.<br />

Harry wollte es nicht glauben. Chris schien nur zu<br />

verlieren, hatte wohl schon zuviel getrunken, um die Münzen<br />

dicht bei der Wand platzieren zu können, und er bekam<br />

noch Geld von ihm: »Sagt mal, warum spielt ihr eigentlich<br />

hier, sonst seid ihr doch immer viel weiter hinten?«<br />

»Wir wollen eben in deiner Nähe weilen, chérie.«<br />

Sie lachten. Ärsche. Harry arbeitete zügiger, um in einen<br />

anderen Teil des Lagers zu gelangen, und nippte ab und zu<br />

an seinem Whisky-Cola.<br />

Der Nachmittag zerfloss. Da gab es ihn, und da gab es die<br />

anderen. Gute, herrliche Trunkenheit.<br />

Irgendwann leerten sie die letzten Dosen Bier, letzten Bier,<br />

und dann gingen die beiden ihm, wie so oft, auf die Nerven,<br />

die Nerven.<br />

Da setzte er sich in seinen Wagen, um nach hinten zu fahren,<br />

nach hinten, um seinen Rausch auszuschlafen, zu<br />

schlafen, schlafen.<br />

Halli! Hallo! Da waren seine Füße, und da waren die Kontakte<br />

des Totmannsystems, und alles in ihm sirrte vor Kraft,<br />

als beides zueinanderstrebte. Knick. Knack. Der Elektromotor<br />

sprang an, und wieder bewegte Harry sich durch diese Linse.<br />

Wie die Linien waberten! Wie Finger krümmten sie sich der<br />

kleinen Öffnung entgegen, wie Fäden in einem metallenen<br />

Spinnennetz. Was?<br />

Er ließ den Wagen auf seinem Weg nach hinten auf und<br />

ab fahren: die Wellenbewegung! Sein Kopf saß auf einem<br />

dünnen, tänzelnden Hals, ein einziges Auge Kamera, groß<br />

und blass und Bilder saugend: Diese Wintersonne knallte<br />

durch die Dachluken und gefror! Was war?<br />

Das für ein Zeug? Die Kartons, Kisten, Einzelteile in den<br />

Fächern: nicht mehr als bunte Tautropfen, hey, colakastenschwer<br />

und blöde!<br />

Harry saß, am hinteren Ende des Ganges angelangt, in<br />

seinem Wagen und lachte, lachte. Er hatte Kraft. Das war ein<br />

Zeug!<br />

Zu Hause. Bücherregal, von IKEA. Klobiger Schreibtisch, ersteigert.<br />

Weiß beschichtetes Ehebett, gebraucht. Im Regal ein<br />

Wald von Flaschen, leer, und in einer Ecke ein Stapel Kartons.<br />

Der Umzug lag schon eine Weile zurück, und so war alles<br />

nicht weniger verstaubt als das Lager, in dem er nun<br />

schon neun Wochen jobbte.<br />

Mein Gott. Sein Körper drückte sich schwer in die Matratze,<br />

und seine Augäpfel, diese prallen Augäpfel wurden hinter<br />

den Lidern größer und größer, drückten das Hirn zusammen.<br />

Fast zwei Stunden lang schwitzte er in der Angst zu verblöden,<br />

dann stand er auf und blickte auf die Straße hinab. Ob<br />

ich mich umbringe? Die vielen Häuser gegenüber: Aus allen<br />

Fenstern springen Leute, klatschen aufs Pflaster. Ein Freund<br />

hatte das erlebt.<br />

Harry brachte sich nicht um. Er verblödete eine ganze Bilderbuchnacht<br />

lang, so erschöpft und gerädert, dass er nicht<br />

einschlafen konnte. Also fuhr er zur Arbeit. Es folgten Tage,<br />

die waren voll von Fehlern.<br />

No. 4 • Januar 2010 andromeda extended magazine www.sfcd.eu • p. 47

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