Heft 1 - Institut für Zeitgeschichte
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Die Sowjetwirtschaft als historisches Phänomen 13<br />
beigehen. Die Beurteilung der Erfolge und die Kritik der sowjetischen Wirtschaftspolitik<br />
liegen jedoch außerhalb unseres Themas. Wir sprechen von der sowjetischen<br />
Wirtschaft als einem historischen Typus und fragen nach dem Gesetz seiner<br />
Bildung. Das beigebrachte anschauliche Material möge genügen, um die Umrisse<br />
einer solchen geschichtlichen Typologie zeichnen zu können.<br />
Die Behauptung des russischen Herrschaftsbereiches als einer politischen Einheit,<br />
das unerläßliche Nachvollziehen der technisch-sozialen Entwicklung zur<br />
modernen Industriegesellschaft durch die Sowjets vollzieht sich in einem Wirtschaftssystem,<br />
dessen wesentliche Determinanten aus gegebenen Aktionsbedingungen<br />
herzuleiten sind, das deshalb in seinen konstitutiven Elementen als „Anpassung<br />
an übermächtige Verhältnisse" (A. Gehlen) verstanden werden kann. Ob die<br />
Vernachlässigung der funktionalen Bedeutung des Privateigentums an Produktionsmitteln,<br />
die schon bei den vor-marxistischen russischen Sozialreformern üblich war 17 ,<br />
ebenfalls auf das Milieu zurückzuführen ist, ist ein Problem, das sich der gleichen<br />
Argumentation als zugänglich erweisen könnte.<br />
Der vorgetragenen Ansicht liegt nicht die Annahme einer naturgeographischen<br />
Determiniertheit des staatsbildenden Verhaltens zugrunde, wie sie Montesquieu<br />
in seinem „Esprit des Lois" behauptet hat. Gemeint ist vielmehr ein zweckrationales<br />
Verhalten bei der Herstellung eines ökonomischen Optimums, ähnlich wie<br />
H. v. Thünen in seinem Standorttheorem die Wahl der landwirtschaftlichen Betriebssysteme<br />
aus der jeweils gegebenen Transportkostenentfernung vom Verbrauchszentrum<br />
seines Modells erklärt. In diesem Sinne kann die Wahl gewisser<br />
Großbetriebsformen (Gutsbetrieb, Kolchose) angesichts der Wirkung natürlicher<br />
Standortfaktoren als eine rationelle angesehen werden 18 . Der staatswirtschaftlichzentralistische<br />
Charakter des Systems im ganzen ist freilich aus solchen, die Betriebsgestalt<br />
bestimmenden Determinanten nicht zu erklären, die doch als raumadäquate<br />
Betriebsformen schon vor der Sozialisierung vorhanden waren. Das<br />
Gesamtsystem in seiner ökonomischen Ratio ist auch nicht nur als eine „Dachorganisation"<br />
von zweckmäßigerweise in Großbetrieben organisierten Einzelwirtschaften<br />
zu verstehen, obwohl diese Formen den spezifischen sowjetischen Planungszentralismus<br />
erst ermöglichen 19 .<br />
Als in letzter Instanz <strong>für</strong> die Wahl des Systems bestimmend werden hier vielmehr<br />
das Vorhaben der Raumerschließung und die Methoden staatlicher Kapitalakkumulation<br />
angesehen, die jene ermöglichten. Wenn eingeräumt wird, daß die plangegebenen<br />
Präferenzen von Ort und Zeit von einer in großen Sektoren noch in<br />
der NÖP individualwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaft nicht einzuhalten<br />
17 Vgl. M. E. Malina, Herzen and the Peasant Commune; ferner O. H. Radkey, Chernow<br />
and Agrarian Socialism Before 1918, beide in „Continuity and Change".<br />
18 Eine eingehende Begründung dieser These wird in des Verf. eingangs genanntem Beitrag<br />
gegeben. - Der Versuch einer standortgeographischen Erklärung der Entwicklung des Groß-<br />
(und Mammut-) Betriebes in der sowjetischen Industrie steht noch aus. Zur Methode s.<br />
W. Gerling, Technik und Erdbild, Würzburg 1944.<br />
19 So ist die gesamte Landwirtschaft des riesigen Raumes in nur etwa 60 000 Einzelbetrieben<br />
organisiert.