Heft 1 - Institut für Zeitgeschichte
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50 Dietrich Geyer<br />
fassung, demokratisches Wahlrecht, demokratische Freiheiten, Amnestie. Bis zu<br />
den Angestellten, den Lehrern, den freien Berufen hin befand sich Rußland in<br />
einem Rausch selbsttätiger Organisation und Sammlung, in einer Dynamik, die<br />
der Autokratie das „Oktobermanifest", das Zugeständnis einer Volksvertretung,<br />
entriß.<br />
Abschluß und Ergebnis dieser ersten Revolution waren <strong>für</strong> die russische Arbeiterschaft<br />
nicht die Barrikadenluft des Moskauer Dezemberaufstandes, auch nicht die<br />
Ritualmordatmosphäre, wie sie von den Exzessen der „schwarzen Hundertschaften"<br />
ausging - es war das gestärkte Vertrauen in die eigene Kraft und die Gewißheit,<br />
daß sich diese Kraft in der russischen Gegenwart zur Geltung bringen ließ. Die<br />
Niederlage der Revolution hat die Hoffnung nicht fortgenommen, daß der Alltag<br />
der Arbeit in den Maschinensälen und Werkstätten einmal lichter, leichter, freundlicher<br />
werden müsse. Ein „sozialistisches Bewußtsein", um das die Parteiliteraten<br />
stritten, war dabei gewiß nicht entstanden, wohl aber eine bestimmte Art „proletarischen<br />
Selbstbewußtseins", - dem Fortschrittsoptimismus verwandt, wie er der<br />
europäischen Arbeiterbewegung eigen war. Plakat und Kampflied, Flugschrift und<br />
Zeitung formten neue Begriffe; Meeting und Abstimmung, der Delegierte und der<br />
Deputierte, ja auch Vorstandstisch und Präsidentenglocke waren in der proletarischen<br />
Lebenswelt heimisch geworden. Gewerkschaftspraxis und Genossenschaftsgedanke<br />
hatten neue Daseinsformen sichtbar gemacht, hielten frischgeweckte Erwartungen<br />
lebendig 13 . Mancherlei Unbekanntes wurde nun zum ersten Male bekannt: die<br />
befreiende Wirkung der solidarischen Massenaktion und Organisation, das Vermögen<br />
disziplinierter Besonnenheit, die zusammenschließende Macht der zündenden Losung,<br />
die Erkenntnis schließlich, daß Wissen, Sachverstand und Bildung zu den<br />
Voraussetzungen gehörten, um in einer bewegten Periode des Umbruchs das eigene<br />
Recht zu sichern und zu mehren. Ein übergreifender Zusammenhang hatte sich<br />
.aufgetan in diesen Jahren: Die Arbeiterschaft mochte erkennen, daß sie wohl eine<br />
Klasse <strong>für</strong> sich, zugleich aber auch Teil in einer größeren Gesellschaftsbewegung<br />
war.<br />
So ist auch die radikalisierte Massenstimmung nicht ins Uferlose hinausgetrieben;<br />
sie wurde aufgefangen von neuen Maßstäben und Normen, die sich der entfalteten<br />
Arbeiterbewegung nun von vielen Seiten mitteilten: aus der Mitte einer zum Leben<br />
erwachten bürgerlichen Demokratie, ja und selbst von jenem Gestaltwandel her,<br />
in welchem das russische Staatswesen seither begriffen war, so schleppend sich<br />
dieses in Neuansatz und Rückschlag auch verändern mochte. „Die Duma", schrieb<br />
ein so tiefdringender Beobachter wie Otto Hoetzsch im Oktober 1915, „hat sich zu<br />
einem organischen Teile des russischen Staatslebens herausgebildet, und die Richtungen<br />
wenigstens sind zu erkennen, in denen sich die weitere Entwicklung bewegen<br />
wird und kann: der gewaltige Umbildungsprozeß vom absoluten zum<br />
13 Die Wirksamkeit der russischen Gewerkschaften vor dem ersten Weltkrieg bedarf<br />
weiterer Untersuchung. Zur Literatur: Russkaja profsojuznaja periodiöeskaja peöat', 1905 bis<br />
1917 gg. Bibliograiifieskij ukazatel'. Moskau 1957. Diese Bibliographie verzeichnet 208 Zeitungen<br />
und Zeitschriften gewerkschaftlicher Verbände.