Heft 1 - Institut für Zeitgeschichte
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6 Hans. Raupach<br />
der liberalen Rationalisierung der spezifischen Betriebsformen des östlichen Preußen<br />
nicht ganz Deutschland zum Verhängnis wurden, ergab sich aus der Möglichkeit,<br />
in die Industrie Berlins, des Ruhrgebiets oder nach Übersee auszuwandern.<br />
In Rußland aber erfaßte bei allgemein vorherrschender Gutsbetriebsstruktur dieser<br />
Zersetzungsprozeß der alten Ordnung das ganze Imperium. Edwart Hallett Carr<br />
faßt in seiner „History of Soviet Russia 2 " das Ergebnis der Stolypinschen Reform<br />
wie folgt zusammen: „Im Endergebnis leistete die Maßnahme, die getroffen worden<br />
war, um die Revolution aufzuhalten, einen vitalen Beitrag zum Erfolg der<br />
Revolution. Indem sie das Los der Mehrheit der Bauern weiter herabdrückte, sowohl<br />
absolut wie im Vergleich zu den wenigen ihrer Berufsgenossen, die mehr vom<br />
Glück begünstigt waren, spaltete sie die Bauern in feindliche Lager und setzte die<br />
Revolutionäre in den Stand, die ausgebeuteten Armen gegen die ausbeutenden<br />
Wohlhabenden innerhalb der Reihen der Bauernschaft aufzubringen."<br />
Selbst wenn Colin Clarks Feststellung, daß in Rußland um diese Zeit die Zahl<br />
der unbeschäftigen Arbeitskräfte auf dem Dorfe mit etwa 30 Millionen Menschen<br />
anzusetzen war, als übertrieben angesehen würde, vermittelt sie doch eine Vorstellung<br />
von dem sozialen Zündstoff, wie von der Größe der ökonomischen Probleme,<br />
die in einem derart übervölkerten Land zu lösen waren.<br />
Man kann unterstellen, daß fortschrittlich eingestellte Gutswirte und Bauern -<br />
wie am Beispiel der deutschen bäuerlichen Siedlungen in den Schwarzmeergebieten<br />
ersichtlich ist - mit der Anwendung neuer Techniken auch hier ihr Bestes taten,<br />
und daß bei fortschreitender „Wanderung des Bodens zum besseren Wirt" die<br />
Ernährung der wachsenden Bevölkerung von einer produktiven Landwirtschaft<br />
hätte gewährleistet werden können. Eine Folge erfolgreicher Rationalisierung<br />
wäre aber gleichzeitig die Freisetzung weiterer, die vorhandene Arbeitslosigkeit<br />
vergrößernder Arbeitsreserven gewesen. Diese in industrielle Beschäftigung zu<br />
überführen, wäre angesichts der drohenden sozialen Explosion die vordringlichste<br />
Aufgabe <strong>für</strong> jedes Wirtschaftssystem gewesen. Industrialisierung aber setzte voraus,<br />
daß die in großer Raumweite verteilten brachliegenden Bodenschätze und Wasserkräfte<br />
erschlossen und die dazugehörigen Grundinvestitionen des Verkehrs erstellt<br />
wurden.<br />
Es wird zuweilen übersehen, daß die Wachstumsrate der russischen Industrie<br />
nach der Jahrhundertwende relativ hoch war 3 ; aber gemessen an der Zahl der<br />
bereitzustellenden industriellen Arbeitsplätze war die damalige private und staatliche<br />
Investitionstätigkeit trotz ihrer absoluten Größe nicht ausreichend im Sinne<br />
eines gleichgewichtigen, den sozialen Frieden sichernden Wachstums.<br />
Die industrielle Schwäche Rußlands in machtpolitischer Hinsicht wurde im ersten<br />
Weltkrieg bloßgelegt. Mit einer Jahresproduktion von nur 4,2 Mio to Stahl, einem<br />
unzulänglichen Transportwesen und abgeschnitten von der ausländischen Einfuhr<br />
von Maschinen und Spezialausrüstungen war es dem deutschen Potential von<br />
2 Bd. II, S. 23 (Übersetzung d. Verf.).<br />
3 Nach 1.1. Ljascenko, Istorija narodnogo chosjajstva SSSR., Bd. II, S. 394f., betrug sie im<br />
Zeitraum von 1900 bis 1913 60 v. H.