Heft 1 - Institut für Zeitgeschichte
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44 Dietrich Geyer<br />
es wieder in markigen Zeilen: So 1896 etwa, an den Wänden des Kongreßsaales<br />
der deutschen Sozialdemokratie in Siebleben bei Gotha: „Der Sozialismus - Träger<br />
aller Kultur", „Die Befreiung der Arbeit ist die Befreiung der Menschheit", „Der<br />
Feind, den wir am meisten hassen, das ist der Unverstand der Massen". Die Proletarier<br />
aller Länder, vertreten durch die sozialistischen Parteien, sollten Subjekt<br />
und Objekt jener Kulturbewegung sein; sie sollten - nach geläufiger Vorstellung -<br />
die neue Zeit im Schöße der alten zum Wachsen bringen. Was sozialistische Kulturbewegung<br />
zu nennen war, hatte seinen Ausgang von einer zustoßenden Kulturkritik<br />
genommen, und die Anklage, die den Grundlagen der verfemten Gesellschaftsordnung<br />
galt, ist zugleich der wohl mächtigste Antrieb <strong>für</strong> das eigene Kulturverständnis<br />
gewesen, <strong>für</strong> die Verständigung über die „wahre Kultur", über die<br />
sozialistische Zukunft der Menschheit. Der Versuch einer Definition des Endziels<br />
am Negativ der Gegenwart lieh der Kulturkritik ihre ätzende Schärfe: In ihrer Einförmigkeit<br />
und Unbediagtheit wirkte sie wie ein festgefügter Damm, der die<br />
Kämpfe mit der rechtlichen Ordnung des Klassenstaates, mit der bürgerlichen Gesellschaft,<br />
mit der Kirche, von praktikablen Kompromissen abhielt, von der Versuchung,<br />
die eigene große Sache, <strong>für</strong> ein Linsengericht womöglich, dem „Klassenfeind"<br />
anheimzugeben.<br />
Bei alledem wollte die Kritik ihrem Wesen nach so tief gegründet sein, daß sie<br />
Läuterung, Besserung oder Umkehr des Gegners nicht einmal wünschen durfte.<br />
Kinderarbeit und „Schmutzkonkurrenz" der in den Produktionsprozeß gestoßenen<br />
Proletarierin, die Bildungsprivilegien und die Sittenskandale der Zeit legten wesenhafte<br />
Elemente der kapitalistischen Gesellschaftsverfassung bloß. „Die Prostitution",<br />
so hatte Bebel noch in der 50. Auflage seiner berühmt gewordenen „Frau"<br />
wiederholt, „ist eine notwendige soziale <strong>Institut</strong>ion der bürgerlichen Welt, ebenso<br />
wie Polizei, stehendes Heer, Kirche und Unternehmerschaft 2 ." Aber auch in den<br />
Mikrokosmos des Alltäglichen leuchtete der Brennspiegel dieser Kritik hinein:<br />
Heim und Herd, Körper hygiene, Frauenturnen und Heilgymnastik -, es gab wohl<br />
kaum einen Bereich, der von der klassenbewußten Polemik nicht in die Perspektive<br />
des „Zukunftsstaates" gestellt worden wäre. 1898 schrieb die „Gleichheit", die<br />
Zeitschrift „<strong>für</strong> die Interessen der Arbeiterinnen" in einem Artikel über Modefragen:<br />
„Das Schlimmste an der Frauenkleidung ist, daß es überhaupt eine gibt.<br />
Und es gibt [sie] . . . nur deshalb, weil die Frau geknechtet ist. . . . Das Ganze ist<br />
ein Ausdruck von Schwäche, von einem hohlen Kopf, von Mangel an Selbständigkeit<br />
und Schlagfertigkeit, von Untauglichkeit <strong>für</strong> das Leben im Allgemeinen -,<br />
lauter schöne weibliche Eigenschaften, denen zum guten Theil durch Kniehosen<br />
und Lodenanzüge abzuhelfen wäre 3 ."<br />
Hier, an einem allerdings krassen Beispiel, mag deutlich werden, welche Verlegenheit<br />
die sozialistische Kulturkritik mitunter durch bloße Lautstärke zu übertönen<br />
hatte. Die Bemühungen, den Angriff über die Negation hinauszuführen,<br />
verfingen sich immer wieder in barer Utopie oder erschraken vor der Nähe bürger-<br />
2 August Bebel, Die Frau und der Sozialismus. 136.-140. Tausend. Stuttgart 1913, S. 180.<br />
3 Die Gleichheit. 8. Jg. 1898, Nr. 12, S. 92.