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Heft 1 - Institut für Zeitgeschichte

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48 Dietrich Geyer<br />

jenes kühnen Versuchs einer Jugendbewegung, den Sozialismus, die Aufklärung,<br />

das Licht der Vernunft in die Dörfer zu tragen, dieser Zug zum Volke hin hatte<br />

sich in der Folge als unwiederholbar erwiesen. Der Bauernsozialismus der Anhänger<br />

Proudhons und Fouriers war entschärft worden und auf weite Strecken hin in<br />

der sozialen Kleinarbeit der liberalen Zemstvo-Gesellschaft aufgegangen 8 .<br />

Als sich der Marxismus zu Beginn der neunziger Jahre der lernenden Jugend<br />

bemächtigte, hat er wohl die Weltanschauung derer auszurichten vermocht, die<br />

der Wissenschaftlichkeit seiner Lehren vertrauten 9 . Der Zusammenprall der Marxschen<br />

Lehren mit den Anschauungen der Narodniki-Intelligenz bildet denn auch<br />

das große Thema der russischen Ideengeschichte dieser Zeit. Rußland, so verkündete<br />

das neue Credo, werde dem kapitalistischen Europa nachzufolgen haben auf<br />

einem Wege, der die russischen Besonderheiten, die eigenständigen Lebensformen<br />

der bäuerlichen Welt hinwegfegen müsse. Die Zukunft gehöre der Industrie, sie<br />

gehöre dem russischen Fabrikproletariat. Diese Grundfrage nach der Richtung der<br />

sozialökonomischen Entwicklung des Zarenreiches ist bis zur Jahrhundertwende<br />

weitgehend entschieden worden, zugunsten der russischen Marxisten und gegen die<br />

Industrie-Skeptizisten des Narodniöestvo, die mit ihren Wirtschaftsanalysen die<br />

Lebensfähigkeit der russischen Dorfgemeinde zu retten versuchten.<br />

Was der Siegeszug des Marxismus aber dennoch unentschieden gelassen hatte,<br />

war eine andere Frage, die Frage nämlich, ob nunmehr auch in Rußland der Sozialismus<br />

als Kulturbewegung, als Emanzipationskampf der industriellen Arbeiterschaft,<br />

zur Wirkung kommen würde. Denn die herkömmliche Isolierung der Sozialisten,<br />

ja auch der Sektengeist ihres extremen Radikalismus hatte sich über allen<br />

Wandel hinweg großenteils fortgeerbt. In einer Zeit, da im Westen und namentlich<br />

in Deutschland Organisation und Bildung als mächtige Antriebsmittel der Arbeiterbewegung<br />

wirksam waren, vermochte der Marxismus in Rußland zunächst nur<br />

eine auf sich selbst verwiesene Intelligenz- und Literatenschicht zu organisieren<br />

und zu bilden. Die russischen Sozialdemokraten hatten das Kontaktproblem noch<br />

nicht gelöst, den Zugang zu den Fabriken noch kaum gefunden. Versuche, aus dem<br />

von der Polizei überwachten Ghetto auszubrechen, waren nur in Ausnahmefällen<br />

geglückt, wenn die Zuspitzung der sozialen Unruhe nach zufälligen Führern suchen<br />

ließ. Bei alledem galt das Nahziel dieser Führer nicht einmal so sehr der Förderung<br />

einer sich langsam, aber organisch entwickelnden Arbeiterbewegung, sondern vordringlich<br />

dem Sturze der Autokratie, der sogenannten bürgerlichen Revolution, die<br />

— wie man hoffte — die freie Entfaltung des Klassenkampfes erst möglich machen<br />

werde. Revolutionäre Konspiration und Arbeiterbewegung aber schlössen einander<br />

aus; auch die deutsche Sozialdemokratie wäre wohl zu einer Sekte verküminert,<br />

hätte sie sich als Organisation zur Beseitigung der Hohenzollern konstituiert. „Auf<br />

8<br />

Neue Aufschlüsse bei George Fischer, Russian Liberalism. From Gentry to Irrtelligentsia.<br />

Harvard University Press 1958.<br />

9<br />

Dazu und zum Folgenden das Buch des Verf.: Lenin in der russischen Sozialdemokratie.<br />

Die Arbeiterbewegung im Zarenreich als Organisationsproblem der revolutionären Intelligenz,<br />

1890-1903. Köln 1961.

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