Heft 1 - Institut für Zeitgeschichte
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Arbeiterbewegung und Kulturrevolution 55<br />
nungslegung, Berichterstattung. Die neue Staatsräson des „sozialistischen Vaterlandes",<br />
in Bürgerkrieg und Interventionskämpfen geboren, forderte Konsolidierung,<br />
statt weitertreibenden Umbruch, eiserne Disziplin statt regellose Eigentätigkeit,<br />
sie forderte Dienst an der Sicherung und Stärkung des Errungenen. Das<br />
Programm der neuen Kultur geriet damit in die Transmissionsriemen eines Parteiwillens<br />
hinein, der Machtbehauptung und Machtausbau auf seine Fahnen geschrieben<br />
hatte. Von dieser Warte her mußte die Kunst Agitationsmittel werden, die<br />
Bildungsarbeit ein Mittel zur Produktion von Verwaltungsfachleuten, Sowjetbeamten,<br />
Wirtschaftsorganisatoren des Wiederaufbaus. Die sozialistische Utopie<br />
wurde umgegossen in den prosaischen Alltag eines ausgezehrten, hungernden,<br />
weithin noch bäuerlichen Landes. Ganz in diesem Sinne die ernüchternden Worte<br />
Lenins 1920: „Die proletarische Kultur fällt nicht vom Himmel, sie ist nicht eine<br />
Erfindung von Leuten, die sich als Fachleute <strong>für</strong> proletarische Kultur bezeichnen . . .<br />
Die proletarische Kultur muß die gesetzmäßige Weiterentwicklung jener Summe<br />
von Kenntnissen sein, die die Menschheit sich unter dem Joch der kapitalistischen<br />
Gesellschaft erarbeitet hat. . . Für den Anfang sollte uns eine wirkliche bürgerliche<br />
Kultur genügen . . . Z6 "<br />
Eine wirkliche bürgerliche Kultur! In der Tat: Hier war die Revolution zu<br />
Ende, aufgefangen durch das Dekret von oben, durch die Diktatur eines Umgestaltungswillens,<br />
der über die Menschen hinweggriff. Die Kulturbewegung des Sowjetsozialismus<br />
galt fortan der Eroberung der bürgerlichen Kultur <strong>für</strong> Rußland: Kultur<br />
im Sinne positiver Kenntnisse, technischer Fertigkeiten, materieller Errungenschaften,<br />
Kultur nicht zuletzt auch als Problem der Macht. Einholen und Überholen<br />
Europas! - Jener Appell, der zur Stalinschen Industrialisierung und Kollektivierung<br />
weiterführt, hat das kommunistische Endziel in den Schatten der Produktionspläne<br />
gestellt, den neuen Menschen unter das imaginäre Bild des patriotischen Stoßarbeiters,<br />
des „positiven Helden" der Sowjetunion. Kunst und Literatur des sozialistischen<br />
Realismus, in den Ausdrucksmitteln des 19. Jahrhunderts festgehalten,<br />
sind seit Beginn der dreißiger Jahre auf ähnliche Postulate verpflichtet. Und die<br />
Zukunftserwartung des Sowjetbürgers sieht sich dem dröhnenden Pathos einer in<br />
den Kosmos ausgreifenden Fortschrittsgläubigkeit anheimgegeben, die sich nähren<br />
lassen muß von der Beweiskraft des statistisch belegten Erfolgs, von den Aufstiegschancen<br />
in einer hochtechnisierten Welt, vom Blick auf die Fernsehantennen der<br />
Städte 26 .<br />
26 Rede auf dem III. Allrussischen Kongreß des Kommunistischen Jugendverbandes,<br />
2. Oktober 1920, in: Ausgewählte Werke, Bd. 2, Berlin 1954, S. 784. Die Frontstellung<br />
Lenins gegen Futurismus und Proletkult ist hinlänglich belegt. Vgl. jetzt den Sammelband:<br />
V. I. Lenin, O literature i iskusstve. 2. Aufl. Moskau 1960.<br />
26 Zur Soziologie und Sozialpsychologie der gegenwärtigen Sowjetgesellschaft die Forschungen<br />
von Alex Inkeles und Raymond Bauer, How the Soviet System works. Cultural,<br />
Psychological and Social Themes. Harvard University Press 1956, The Soviet Citizen. Daily<br />
Life in a Totalitarian State. Harvard 1959.