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Heft 1 - Institut für Zeitgeschichte

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Arbeiterbewegung und Kulturrevolution 45<br />

licher Reformbestrebungen. Es erwies sich, daß der Katechismus der Schlagworte,<br />

der fias Elysium der klassenlosen Gesellschaft beschrieb, durch glaubwürdige Bilder<br />

nicht zum Leben zu bringen war. Das sozialistische Gemeinwesen blieb ohne wirkliche<br />

Zugkraft und wurde - fremdartig, wie es sich ansah - eher dem Romanhaften<br />

zugeordnet als der eigenen Lebenserwartung. Literarische Gemälde, wie<br />

Bellamys „Rückblick aus dem Jahre 2000", füllten die leeren Flächen. Den projektierten<br />

Gemeinschaftshäusem und Wirtschaftsgenossenschaften wurde nur wenig<br />

Vertrauen entgegengebracht, die kommunistische Dampfküche und die Kinderbewahranstalt<br />

weckten manche Zweifel. Selbst wenn man sich gelegentlich gern<br />

über den Weinbau der Zukunft, die Frau in der Zukunft oder über die sozialistische<br />

Elektrokultur belehren ließ, - das Gesicht des „Zukunftstaates" blieb dem Verdacht<br />

der Unnatur ausgesetzt, nicht selten gar dem offenen Spott: „Auch Sozialisten<br />

und emanzipierte Sozialistinnen", so hieß es dann, „geben von dem natürlichen<br />

menschlichen Drange und Bedürfnis Beispiele ab: ein ungeniertes, ungestörtes<br />

Nestchen mit seinen Lieben, Gatten und Kindern zu bewohnen, . . . ganz spießbürgerlich,<br />

philisterhaft, kleinbürgerlich zu leben . . .*"<br />

In der Tat hat sich das Kulturverständnis des europäischen Sozialismus nicht<br />

allein am Doppelsinne des Klassendogmas entlang bewegt. Das rechtgläubige Bild<br />

des Jetzt und Später, das der Kultur der Expropriateure die Kultursehnsucht der<br />

Expropriierten entgegenhielt, wurde von den Rändern her überdeckt vom kulturellen<br />

Selbstbewußtsein der Zeit, in der man wirkte, an der man teilnahm: Kultur<br />

als Zwischenbilanz des historischen Fortschritts, als positive Summe der bisherigen<br />

Geschichte, als gegenwärtiger Besitz, - nicht eben weit entfernt von jenen „heiligsten<br />

Gütern", die zu wahren der deutsche Kaiser die Völker Europas aufrief.<br />

Begriffe wie „moderne Kultur", „Kulturvölker", „zeitgenössische Kulturwelt", in<br />

durchaus klassenfreiem Sinne angewandt, waren selbstverständlich geworden, und<br />

der Anspruch der „höheren Kultur" wurde gegenüber dem russischen Despotismus<br />

ebenso geltend gemacht wie gegenüber den Völkern, die der Kolonialimperialismus<br />

der Mächte an Europa heranzog. Ja, und selbst die Nation: Jean Jaures,<br />

dem brillanten Sprecher der französischen Sozialisten, war sie „Schatzhaus des<br />

menschlichen Genies und Fortschritts", ein „kostbares Gefäß der menschlichen<br />

Kultur" 6 . Internationalismus und Patriotismus verloren ihre polare Spannung und<br />

haben einander nicht ausgeschlossen, auch <strong>für</strong> einen Mann wie Friedrich Engels<br />

nicht: „Wird Deutschland", so schrieb er 1891 angesichts des französischen Flottenbesuchs<br />

in Kronstadt, „von Ost und West angegriffen, so ist jedes Mittel der Verteidigung<br />

gut. Es geht um die nationale Existenz und auch <strong>für</strong> uns um die Behauptung<br />

der Position und der Zukunftschancen . . . 6 ".<br />

4 Edmund Fischer, Die Frauenfrage, in: Sozialistische Monatshefte Jg. IX, 1 (1905),<br />

S. 265. Gegenstimmen im Sinne „totaler Emanzipation": Ebenda, S. 304, 443—449. Die<br />

sozialistische Literatur zur „Frauenfrage" ist durchaus unübersehbar.<br />

6 Vgl. Jean Jaures, Aus Theorie und Praxis. Socialistische Studien. Berlin 1902. Auf das<br />

„Revisionismus "-Problem im europäischen Sozialismus kann hier nicht eingegangen werden.<br />

6 Engels an Bebel, 13. Oktober 1891, Briefe an Bebel. Berlin 1958, S. 190.

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