Heft 1 - Institut für Zeitgeschichte
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54 • Dietrich Geyer<br />
werdung des Affen. Das Kommissariat <strong>für</strong> Volksaufklärung richtete Appelle an die<br />
Lehrerschaft, dekretierte eine offensive Bildungsarbeit, deren Spannweite von den<br />
Schnellkursen der Arbeiter- und Bauernfakultäten bis in die Kinderheime hineinreichte.<br />
Mit dem Programm der proletarischen Arbeitsschule wurden die Erkenntnisse<br />
der modernen Pädagogik der Revolution unterstellt 22 . Der Sprung über die<br />
bürgerliche Zivilehe hinweg trug das Pathos der befreiten Frau, das Ende der „Geschlechtssklaverei"<br />
in die sibirischen Nomadensiedlungen, in die zentralasiatischen<br />
Emirate Buchara und Kokand. Und in den Städten praktizierte die Jugend<br />
die neue Moral, die Revolution der Geschlechtsbeziehungen, Alexandra Kollontajs<br />
Evangelium der freien Liebe 23 .<br />
*<br />
Wohin trieb dies alles? War es genug, daß von den Tribünen der neuen Machthaber<br />
herab der menschheitliche Auftrag der russischen Revolution immer wieder<br />
formuliert wurde? In der rationalistischen Härte Leninscher Schule hatte der junge<br />
Bucharin das große Endziel beschrieben: „Die ganze Welt muß . . . ein großes<br />
Arbeitsunternehmen bilden, wo die ganze Menschheit nach einem streng ausgearbeiteten,<br />
berechneten und ausgemessenen Plan ohne jegliche Herren und Kapitalisten<br />
auf den besten Maschinen in den größten Fabriken <strong>für</strong> sich arbeitet... Je<br />
weiter und größer der Gesamtplan ist, ... je mehr Anweisungen [die Produktion]<br />
aus einem statistischen Mittelpunkt der Berechnung und Abrechnung erhält, mit<br />
anderen Worten: je mehr sie zentralisiert ist, desto besser. Denn desto weniger<br />
Arbeit fällt auf den Anteil eines jeden, desto freier ist jeder, desto größeren Spielraum<br />
erhält die menschüche Gesellschaft zu ihrer geistigen Entwicklung 24 ."<br />
Dieses Programm versprach Erlösung der menschlichen Gesellschaft in einer weltumspannenden<br />
Organisation kollektiven Produzierens, regiert durch den Plan, dirigiert<br />
mit dem Schalthebel einer zentralen Leitstelle. Das mochte in manchen<br />
Stücken noch an die alten Weisen erinnern, deren utopische Aussagen die sozialistische<br />
Bewegung von ihren Anfängen her begleitet hatten. Aber es klang doch<br />
wohl bemerkenswert eisiger, als es der überschäumenden Spontaneität des Revolutionsgeschehens<br />
gemäß gewesen wäre.<br />
Was die Partei postulierte, meinte nicht die ungeordnete Selbstbewegung der<br />
Massen in eine neue Zeit hinein. Was sie verkündete, hieß Befreiung durch den<br />
Plan, durch kollektive Arbeit, Befreiung durch Unterordnung und Kontrolle, Rech-<br />
22 W. Newski und S. Rawitsch, Arbeiter- und Bauernfakultäten in Sowjetrußland. Hamburg<br />
.1921. Von den Arbeiten Oskar Anweilers (Hamburg) werden neue Aufschlüsse über die<br />
„pädagogische Revolution" zu erwarten sein.<br />
23 Bekannt geworden vor allem mit ihren drei Erzählungen: Wege der Liebe. Malik-<br />
Verlag Berlin 1925. Zum Eherecht: Heinrich Freund, Das Zivilrecht Sowjetrußlands. Berlin<br />
1924.<br />
24 Nikolai Bucharin, Das Programm der Kommunisten (Bolschewiki). Berlin 1919, S. 19.<br />
Dazu: Kodex der Arbeit der RSFSR mit Deklaration der Rechte des ausgebeuteten Volkes.<br />
Hrsg. von der „Russischen Korrespondenz", 1920; Das Arbeitsgesetzbuch Sowjetrußlands,<br />
Ausgabe 1922. Hrsg. von H. Freund. Hamburg-Berlin 1923.