spektrum_201310.pdf (11.592 KB) - TUHH
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80 Gastinterview Campus<br />
Über Beobachter der Beobachter,<br />
Freiheit und Sicherheit<br />
Die Enthüllungen des US-Amerikaners Edward Snowden über die Abhörmaßnahmen<br />
der amerikanischen und britischen Geheimdienste haben Politik und Öffentlichkeit<br />
in Deutschland irritiert. Was bedeuten sie medientheoretisch? Gibt es einen<br />
anthropologischen Hintersinn? Diese und weitere Fragen rund um die Sicherheit im<br />
Datenverkehr beantwortet Jochen Hörisch, Professor für Neuere deutsche Literatur<br />
und Medienanalyse an der Universität Mannheim.<br />
Foto: e<br />
Die Welt ist voller Beobachter: Sie wird von<br />
amerikanischen und britischen Geheimdiensten<br />
überwacht, die wiederum von anderen<br />
Geheimdiensten beobachtet werden, sie wird<br />
von „Whistleblowern“ entlarvt, von der<br />
Presse beobachtet, die wiederum wir beobachten.<br />
Was geschieht da?<br />
Etwas Eigentümliches, gewissermaßen die<br />
mediale Säkularisierung eines theologischen<br />
Modells. Der monotheistische Gott<br />
wurde traditionell als Letztbeobachter<br />
konzipiert, er sieht alles („wie unfein“, bemerkte<br />
Nietzsche), lässt sich selbst aber<br />
nur bedingt in die Karten schauen. Theologen<br />
beobachten jedoch seit jeher den<br />
Letztbeobachter Gott; sind also die eigentlich<br />
unfrommen bis satanisch-hybriden<br />
Frevler? Sie zeigen (paradox = religionskritisch),<br />
dass es keinen finalen, seinerseits<br />
nicht beobachtbaren Letztbeobachter gibt.<br />
Geheimdienste beobachten alles und müssen<br />
damit rechnen, dass sie ihrerseits besonders<br />
aufmerksam beobachtet werden<br />
(sei es von anderen Geheimdiensten, Filmregisseuren,<br />
Romane schreibenden Ex-Geheimdienstlern,<br />
kritischen Journalisten etc.).<br />
Diese Entwicklung folgt einem medienhistorischen<br />
Großtrend, von dem Dürrenmatts<br />
Roman „Der Auftrag oder Vom<br />
Beobachten des Beobachters der Beobachter“<br />
erzählt hat: der zunehmenden<br />
„Symmetrisierung“ und „Paradoxierung“<br />
von Beobachtungsverhältnissen.<br />
Jeder Beobachter hat einen „blinden Fleck“.<br />
Können Sie einen solchen benennen?<br />
Der ist leicht zu benennen, und dennoch<br />
streift diese Benennung ein Tabu. Sie verletzt<br />
nämlich. Denn es gibt nur drei Möglichkeiten.<br />
Die erste: Diejenigen, die sich<br />
jetzt empört zeigen, waren nicht die hellsten,<br />
aufmerksamsten, kritischsten Köpfe. Ich<br />
akzeptiere den Vorwurf, arrogant zu sein,<br />
wenn ich sage: mich haben die Enthüllungen<br />
der letzten Zeit nicht verblüfft, wohl<br />
aber die allgemeine Verblüffung darüber.<br />
Zweite Möglichkeit: Viele unter denen, die<br />
jetzt als uninformierte und verblüffte<br />
Nicht-Durchblicker dastehen, die genau<br />
diese ihre Negativqualität unbeobachtet<br />
und unkommentiert lassen wollen und die<br />
nun ihre Kränkung durch Empörung kompensieren,<br />
blickten doch durch und machten<br />
sich keine Illusionen, haben aber<br />
stillgehalten, nicht recherchiert oder ihrerseits<br />
nichts gesagt – auch keine gute Option.<br />
Was ist die dritte Möglichkeit? Der<br />
blinde Fleck in meiner Beobachtung!<br />
Ist es nicht beruhigend zu wissen, wenn jemand<br />
darauf achtet, dass – kindlich gesprochen<br />
– uns „nichts Böses geschieht“? Wollen<br />
wir also geradezu beobachtet werden, um<br />
Aufmerksamkeit und Sicherheit zu erlangen?<br />
Eindeutig ja! Unser Leben beginnt mit<br />
einem Schrei nach Aufmerksamkeit. Nicht<br />
beachtet und beobachtet zu werden, zählt<br />
zum Schlimmsten, was Neugeborenen und<br />
Heranwachsenden zustoßen kann. Auch<br />
für Erwachsene gilt: Es gibt nur eines, was<br />
schlimmer ist, als systematisch beobachtet<br />
zu werden – systematisch nicht beobachtet<br />
zu werden, uninteressant zu sein. Es<br />
adelt ungemein, wenn sich ein Geheimdienst<br />
für das interessiert, was man treibt.<br />
Ich fürchte, mit der Kränkung leben zu<br />
müssen, dass meine Arbeiten für den NSA<br />
uninteressant sind. Aber ernsthaft: Es beruhigt<br />
natürlich viele, fast alle, auch diejenigen,<br />
die das nicht so sagen, wenn wir<br />
wissen, dass der US-Geheimdienst etwa<br />
die Sauerland-Gruppe identifiziert und den<br />
deutschen Behörden entsprechende Hinweise<br />
gegeben hat. Und es empört zu<br />
Recht, wenn die deutschen Behörden die<br />
NSU-Terroristen nicht auf dem Schirm<br />
hatten. Ich wäre nicht verblüfft, wenn herauskäme,<br />
dass nicht der Verfassungsschutz<br />
einen V-Mann beim NSU, sondern der<br />
NSU einen V-Mann beim Verfassungsschutz<br />
hatte. Und ich freue mich, dass Telefonate<br />
und Mails von Bankstern wie Notheiß und<br />
Drumm abgefangen und publik gemacht<br />
wurden.<br />
Geht es so weit, dass wir unsere Überwacher,