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Campus Gastinterview 81<br />

den „Großen Bruder“, am Ende noch lieben<br />

lernen?<br />

Das ist eine Frage der Psychodisposition.<br />

Viele, wohl allzu viele missverstehen ihr<br />

Geborgenheitsbedürfnis und wollen im<br />

Gefühl leben, geschützt zu sein. Sie vertrauen<br />

etwa darauf, dass Gott bei ihnen ist<br />

alle Tage bis an der Welt Ende – Gott als<br />

Idealfigur des liebevollen Überwachers.<br />

Der Priester oder der Leiter der Odenwaldschule<br />

kann dann dieses Geborgenheitsbedürfnis<br />

missbrauchen – genau in<br />

dem Maße, in dem wir die Einsicht verdrängen,<br />

dass Misstrauen eine Produktivkraft<br />

sein kann. Schon rein funktional<br />

geboten ist aber auch das Misstrauen in<br />

das Misstrauen – nur mit Misstrauen (ist<br />

das Wasser aus der Leitung vergiftet?) lässt<br />

sich einfach nicht leben.<br />

Für die einen ist der Whistleblower Edward<br />

Snowden ein Held, für die anderen ein Verräter.<br />

Was meinen Sie?<br />

Ich kenne Edward Snowden nicht persönlich,<br />

mir liegen auch keine Geheimdienstinformationen<br />

über ihn vor, und also zögere<br />

ich systematisch, ihn zu charakterisieren.<br />

Wohl aber ist mir sein Typus kulturhistorisch<br />

vertraut: dreißigjährig (wie Jesus, als<br />

sein öffentliches Wirken beginnt), für viele<br />

eine Erlöserfigur, für andere ein seltsamer<br />

Heiliger, einer, der seine Sphäre (er war ja<br />

NSA-Mitarbeiter!) gewechselt hat, kurzum:<br />

ein Konvertit und interessant wie alle Konvertiten.<br />

Aber er kommt aus seiner Herkunftssphäre<br />

nicht recht heraus: Die<br />

chinesischen, russischen und ecuadorianischen<br />

Geheimdienste, die, darüber machen<br />

wir uns keine Illusionen, auch gerne so fit<br />

wären wie der US- und UK-Geheimdienst,<br />

dürften sich nun sehr für sein Wissen interessieren.<br />

Und Snowden wird alle Paradoxien<br />

der Geheimdienstwelt durchleiden,<br />

also einen Passionsweg beschreiten.<br />

Müssen wir zwangsläufig auf Freiheit verzichten,<br />

um sicher leben zu können?<br />

Ja, Freiheit und Sicherheit liegen im Streit.<br />

Wer die Freiheit und den Reiz des Alpinismus<br />

oder des Drachenfliegens genießt,<br />

muss (und will wohl auch!) um sein Leben<br />

fürchten. Die Briten, bekanntlich besonders<br />

freiheitssensibel, akzeptieren deutlich mehr<br />

Videoüberwachungen auf öffentlichen Plätzen<br />

als wir in Deutschland. Aber natürlich<br />

gilt auch die Umkehrung (und eben das<br />

macht die Diskussion so schwierig!): Wer<br />

auf Freiheit verzichtet, kann die Unsicherheit<br />

steigern. Denn nur freie Kritik kann auf<br />

bedrohliche Defizite aufmerksam machen.<br />

Nordkorea ist wohl das unfreieste Land<br />

der Welt – und das mit der unsichersten<br />

Zukunft.<br />

Warum empören sich so wenige Bürger?<br />

Möglicherweise sind sie klüger als die Empörungsmedien.<br />

Sie wissen oder ahnen<br />

doch zumindest, dass die moralische Distinktion<br />

„gut-böse“ analytisch nicht sehr<br />

produktiv, also keine „gute“ Unterscheidung<br />

ist. Alle, die Geheimdienste wie ihre<br />

Kritiker, wollen ja nur das Gute – gar unser<br />

Bestes (sie bekommen das auch häufig).<br />

Und genau das ist das Problem.<br />

Was bleibt für den Einzelnen?<br />

Sehr konkret: Man muss bei Facebook<br />

nicht mitmachen. Für Studierende heißt<br />

das: Medien-Exhibitionismus nimmt Geheimdiensten<br />

aller Art die Arbeit ab, Misstrauen<br />

auch sich selbst gegenüber kann<br />

eine Tugend sein. Und für Professoren: niemand<br />

zwingt uns, auf die beobachtbaren<br />

Kennzahlen (Drittmitteleinwerbung, Ranking,<br />

Quotation-Index etc.) zu achten. Man<br />

kann auch auf die von Humboldt beschworene<br />

Einsamkeit des Forschers vertrauen<br />

– und gerade dann etwas leisten,<br />

was wert ist, beobachtet zu werden.<br />

Der Abdruck dieses Interviews in „Forschung &<br />

Lehre“ (F & L) Ausgabe 8/12 erfolgt mit freundlicher<br />

Genehmigung von Professor Jochen Hörisch und der<br />

F&L-Redaktion.

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