märz 2012 - experimenta.de
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Cornelia Becker<br />
Turmgedächtnis II<br />
Und wir folgten <strong>de</strong>r Alten in <strong>de</strong>n Turm, sie ging uns voraus, die<br />
Treppen hinauf, wir drehten uns höher und höher in das enge<br />
Bauwerk hinein, das einmal hun<strong>de</strong>rtdreizehn Meter hoch gewesen<br />
war und damit <strong>de</strong>r höchste Turm dieser Stadt, die wir nun unter uns<br />
zurückließen, nur ihre Geräusche bran<strong>de</strong>ten noch eine Weile heran. Lachend zuerst, tippten<br />
wir uns an die Stirn, wie verrückt die Alte doch war, und kicherten über unsere eigene<br />
Verrücktheit und unseren Hunger auf wil<strong>de</strong>s Leben. Welches Abenteuer, ihr in diese Ruine zu<br />
folgen, uns ihrer Stimme anzuvertrauen, die uns, immer vorauseilend, mit sich hinaufzog in<br />
das baufällige Wrack, vor hun<strong>de</strong>rtfünfzehn Jahren errichtet, <strong>de</strong>r höchste Turm <strong>de</strong>r Metropole,<br />
<strong>de</strong>r zu einer alten Kirche gehört hatte, wie wir wohl wussten, und <strong>de</strong>n die heutigen Bewohner<br />
dieser Stadt <strong>de</strong>n hohlen Zahn nennen. Wir schraubten uns langsam hinauf, verwun<strong>de</strong>rt über<br />
die Steinstufen unter unseren Füßen, schief und ausgetreten zwar, von Tausen<strong>de</strong>n und<br />
Abertausen<strong>de</strong>n hoffnungsvoller Schritte <strong>de</strong>r Besucher vor uns, doch fest und sicher und die<br />
uns wegtrugen von <strong>de</strong>n bro<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Geräuschen <strong>de</strong>r Stadt. Und die Alte, uns immer lachend,<br />
leichtfüßig voraus - hin und wie<strong>de</strong>r sahen wir eine Wa<strong>de</strong> in groben Strümpfen, die<br />
aufgebrochene Naht ihrer alten porösen Turnschuhe vor uns - wur<strong>de</strong> nicht mü<strong>de</strong>, uns die<br />
Geschichte <strong>de</strong>s Turmes und seiner fünf Glocken zu erzählen: Bronzegeschütze, im Krieg<br />
erbeutet, aus Frankreich hergeschleppt, eingeschmolzen und zu Kirchenglocken gegossen.<br />
Fünfhun<strong>de</strong>rt Stufen hinauf in <strong>de</strong>n Turm, immer weiter hinauf, doch langsam gewahr wer<strong>de</strong>nd,<br />
dass wir in <strong>de</strong>m Schlund dieser sich im Kreise drehen<strong>de</strong>n Treppe steckten, so als seien wir<br />
vom Turm verschluckt wor<strong>de</strong>n und versuchten nun, in gegenläufiger Richtung wie<strong>de</strong>r hinaus<br />
zu gelangen. Kalt und modrig um uns herum, es roch nach Pilz und feuchtem Mauerwerk,<br />
setzten wir unsere Schritte jetzt blind. Fünfhun<strong>de</strong>rt Stufen hinauf in <strong>de</strong>n Glockenstuhl, wo<br />
einmal fünf Glocken gehangen hatten, so riesig, so schwer, dass es zwanzig Glöckner<br />
bedurfte, sie zu bewegen und sie zum Tönen zu bringen! Und <strong>de</strong>ren Klang an jenem Abend,<br />
als sie eingeweiht wur<strong>de</strong>n, so laut und mächtig über <strong>de</strong>r Stadt dröhnten, dass die Klagen <strong>de</strong>r<br />
Wölfe, ihr aufgeschrecktes Heulen und Bellen aus <strong>de</strong>m nahe gelegenem Zoologischen<br />
Garten lange nachhallten. Die Tiere hatten an ihren Gattern gekratzt, heulend, heiser vor<br />
Aufregung und nun glaubten auch wir, von draußen ihr raues Bellen und Winseln zu hören,<br />
weit weg und tief unter uns, während die Stadt und ihr ununterbrochenes Rumoren gar nicht<br />
mehr vorhan<strong>de</strong>n war, verschluckt vom dicken Mauerwerk <strong>de</strong>s Turmes. Die Stimme <strong>de</strong>r Alten<br />
bewegte sich so weit über uns, dass sie, dumpfer und leiser gewor<strong>de</strong>n, im Gemäuer<br />
www.eXperimenta.<strong>de</strong> 17<br />
März <strong>2012</strong>