märz 2012 - experimenta.de
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Niemand glaubte jetzt noch an ein kleines amüsantes Abenteuer, <strong>de</strong>r Alten hinauf folgend<br />
über Stufen, die nicht mehr schief und ausgetreten unter unseren Füßen lagen, son<strong>de</strong>rn<br />
schartig und aufgeborsten, so dass wir vorsichtig tasten mussten. „Hun<strong>de</strong>rtachtzig Stufen“,<br />
dirigierte sie uns weiter. Wir fügten uns - was sonst konnten wir tun? Wissend, dass sich unter<br />
ihren Worten Mauern und Geschichte neu formten, Fugen sich schlossen und <strong>de</strong>r bröckeln<strong>de</strong><br />
Putz fest wur<strong>de</strong> - eingeschüchtert, immer darauf bedacht, ihre Stimme nicht zu verlieren. Das<br />
Mauerwerk war jetzt nichts weiter als kalter, nasser Stein unter unseren Hän<strong>de</strong>n. „Habt<br />
Vertrauen!“ rief es von oben, es klang wie das Rieseln <strong>de</strong>r morschen Wän<strong>de</strong>. Wir wussten,<br />
dass wir uns die Ohren nicht verstopfen konnten, gegen die Geschichte <strong>de</strong>s Turms, die sie<br />
unaufhaltsam weitererzählte, wussten, dass sie seine Zerstörung bisher aus ihren<br />
Erzählungen ausgeklammert hatte: Die Bombenangriffe, die ein Feuer entzün<strong>de</strong>ten, das bis<br />
zum Himmel reichte, die Dächer <strong>de</strong>r Stadt verbrannte und die Spitze <strong>de</strong>s höchsten<br />
Kirchturmes abspringen ließ wie ein Bauklötzchen in einer Spielzeugwelt. Und die Wölfe im<br />
Zoo, Bäume, Steine, Menschen zu Staub zerrieb. Wir durften unsere Ohren nicht<br />
verschließen, mussten ihr, die uns in Schleifen und Bögen die Geschichte <strong>de</strong>s Turms erzählte<br />
und mit ihren Worten Steine zu Stufen stapelte, vertrauen. „Noch fünfzig Stufen, dann ist es<br />
geschafft“, lachte sie über uns, plau<strong>de</strong>rte weiter über <strong>de</strong>n alten Turm, <strong>de</strong>r seit hun<strong>de</strong>rtfünfzehn<br />
Jahren über die Stadt schaut, auch wenn er heute nur noch achtundsechzig Meter misst, mit<br />
seinen fünfhun<strong>de</strong>rt Stufen und fünf Glocken, bei <strong>de</strong>ren Klang die Wölfe geheult hatten und alle<br />
überrascht waren, <strong>de</strong>nn damit hatte niemand gerechnet, und man hatte die Polizei zum<br />
Zoologischen Garten geschickt, die jedoch nichts ausrichten konnte … Wir waren nun wirklich<br />
erschöpft, in diesem Schlund gefangen, unter uns das Knurren <strong>de</strong>r Wölfe, über uns <strong>de</strong>r nackte<br />
Himmel, <strong>de</strong>nn was sonst wür<strong>de</strong> uns oben erwarten? Und endlich traten wir hinaus auf eine<br />
Plattform, geborstenes Mauerwerk über uns, durch das <strong>de</strong>r nächtliche Himmel zu uns<br />
herunterfiel, fahles Mondlicht herein sickerte, und die Alte saß kichernd am ausgezackten<br />
© Florian Czech<br />
Mauerrand, mitten im Krater<br />
<strong>de</strong>r Geschichte, wie ein<br />
keckes Hütchen trug sie die<br />
Mondsichel über ihrem Kopf<br />
und ließ die Beine baumeln.<br />
("Turmgedächtnis" wur<strong>de</strong> im<br />
Erzählungsband: "Eintritt frei"<br />
im Achter-Verlag, 2011<br />
veröffentlicht.)<br />
www.eXperimenta.<strong>de</strong> 19<br />
März <strong>2012</strong>