märz 2012 - experimenta.de
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Dr. Andreas Schreiber<br />
Mein Hut, meine Heimat<br />
Der rotglühen<strong>de</strong> Ball hängt bedrohlich über <strong>de</strong>n 88 Stockwerken <strong>de</strong>s IFC-Tower.<br />
Dessen eiserne Krallen in über vierhun<strong>de</strong>rt Metern Höhe wollen die außerirdische Bedrohung<br />
zangenartig in <strong>de</strong>n Griff bekommen. Ob es gelingt, bleibt fraglich. Das schlierige Grau feucht-<br />
schmutziger Luft umhüllt die Szene mit einem mystischen Schleier. Es wür<strong>de</strong> nicht<br />
überraschen, wenn gleich noch weitere Glutkugeln über die scharfe Bergkuppe <strong>de</strong>s Victoria<br />
Peak schießen und die am Himmel kratzen<strong>de</strong>n Wohngebil<strong>de</strong> attackieren. Doch nichts weiter<br />
passiert, <strong>de</strong>r Sonnenball bleibt allein am Himmel kleben. Plötzlich kippt er rechts hinter <strong>de</strong>m<br />
International Finance Center ab und kuscht sich in die Deckung von The Center, <strong>de</strong>m<br />
fünfthöchsten Gebäu<strong>de</strong> in Hongkong. Sofort wird es etliche Lux dunkler und ein paar Gra<strong>de</strong><br />
kälter. Die Stahlzangen <strong>de</strong>s IFC greifen ins Leere. Ein Frösteln zieht meine nackten Arme<br />
hinauf.<br />
Schnell werfe ich mir meinen dünnen Pullover über. Mein Blick streift die Inselskyline<br />
entlang, von Sheung Wan bis Northpoint. Im Hintergrund türmen sich spitz und steil<br />
immergrüne Bergkuppen bis in luftige Höhen und versperren <strong>de</strong>n Blick auf die Weite <strong>de</strong>s<br />
Horizonts. Bergmittig ragen die Wohntürme auf, <strong>de</strong>ren oberste Stockwerke eben mit <strong>de</strong>n<br />
Gipfeln en<strong>de</strong>n. Zum Hafen hinunter vermehren sich die Hochhäuser hemmungslos, stehen<br />
immer dichter, wachsen immer höher und glänzen immer stärker in ihrem Gewand aus Glas<br />
und Stahl. Irgendwo im Gewühl <strong>de</strong>r unzähligen, zwanzig bis achtzig Stockwerke hohen<br />
Häuser, genauer: direkt gegenüber in Wan Chai, versteckt sich auch das mit nur 32 Etagen<br />
verhältnismäßig kleine Häuschen, in <strong>de</strong>ssen 17. Stock ich ein ebenso kleines Appartement<br />
bewohne. Sonne gibt es von neun bis neun Uhr vierzig, aber nur im hinteren, knapp acht<br />
Quadratmeter kleinen Studierzimmer. Meist schafft sie es jedoch nicht, die nebligen<br />
Ausdünstungen <strong>de</strong>r Stadt und <strong>de</strong>r Berge zu durchdringen. Deswegen sitze ich auf <strong>de</strong>r<br />
Aussichtsplattform neben <strong>de</strong>m Pier in Tsim Sha Tsui, im Rücken <strong>de</strong>n berühmten Clock Tower<br />
und das eigenwillige Kulturzentrum: ein riesiger Golfball sowie eine überdimensionierte<br />
Skaterschanze. Zur Linken läuft die Plattform nahtlos in die Avenue of Stars ein, wo<br />
Berühmtheiten wie <strong>de</strong>r Martial Arts Komiker Jacie Chan und viele an<strong>de</strong>re Film-, Funk- und<br />
Fernsehstars ihre Hän<strong>de</strong> in feuchten Zement gedrückt hatten. Das einfache Volk sowie die<br />
zahllosen Touristen bewun<strong>de</strong>rn und verehren diese Betonhän<strong>de</strong> und verewigen ihren<br />
Pilgerbesuch in theatralisch gestellten Posen auf Microchips.<br />
Mit mir wohnen noch ein paar weitere Tausend Neugierige <strong>de</strong>m Spektakel <strong>de</strong>s<br />
www.eXperimenta.<strong>de</strong> 7<br />
März <strong>2012</strong>