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märz 2012 - experimenta.de

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Bei alle<strong>de</strong>m wird mir <strong>de</strong>nnoch warm ums Herz, wenn ich an die ausgelassenen<br />

Radtouren durchs Ried bis an <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>nsee bei sommerlichem Grillenzirpen und<br />

jugendlichem Rumblö<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>nke. Warum nur? Warum erscheint als Heimat immer die<br />

Scholle <strong>de</strong>s Aufwachsens? Weil wir als Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche lernten, das Leben zu leben,<br />

mit <strong>de</strong>m Leben an sich sowie mit <strong>de</strong>m je eigenen Leben fertig zu wer<strong>de</strong>n. Wir lernten, zu<br />

überleben, wir lernten, uns selbst für überlebensfähig zu halten. Das Wohnen zu lernen heißt,<br />

Wurzeln zu schlagen. Wurzeln gewähren Wachstum. Wurzeln wachsen. Wurzeln verlassen,<br />

über kurz o<strong>de</strong>r lang, ihren Wurzelbo<strong>de</strong>n, strecken sich, recken sich über ihre Heimat hinaus –<br />

sei es als Wurzelgeflecht innerhalb <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, sei es als Pflanze in die Weite <strong>de</strong>s Äthers.<br />

Johann Peter Hebel gibt diesem Gedanken einen lyrischen Ausdruck: „Wir sind Pflanzen, die<br />

– wir mögen es uns gerne gestehen o<strong>de</strong>r nicht – mit <strong>de</strong>n Wurzeln aus <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> steigen<br />

müssen, um im Äther zu blühen und Früchte tragen zu können.” So ist Heimat nicht nur die<br />

Ortsbestimmung <strong>de</strong>r Herkunft, nicht nur Symbol <strong>de</strong>r Vergangenheit und Vergänglichkeit,<br />

son<strong>de</strong>rn seinem Wesen nach <strong>de</strong>r Absprungsbo<strong>de</strong>n, das Sprungbrett in die Zukunft, in eine<br />

neue Welt, in ein neues Leben, in Orte, fern <strong>de</strong>r Heimat, also in die Heimatferne – o<strong>de</strong>r in die<br />

Heimatlosigkeit?<br />

Hei<strong>de</strong>gger, <strong>de</strong>r Philosoph <strong>de</strong>r Heimat und heimatlichen Ackerscholle par excellence,<br />

prägte einst <strong>de</strong>n Spruch: „Herkunft aber bleibt stets Zukunft“. Doch was heißt das? Es meint,<br />

dass <strong>de</strong>r Heimatflüchtige sowie <strong>de</strong>r Heimatflüchten<strong>de</strong> zwar weit über seinen Wurzelbo<strong>de</strong>n<br />

hinausspringt, ihm vielleicht sogar gewaltsam entrissen wird, dass er in diesem Sprung aber<br />

seine Heimat immer auch mitträgt, mitnimmt. Mehr noch: Die Heimat, die Herkunft, überholt<br />

<strong>de</strong>n springen<strong>de</strong>n Flüchtling und kommt als neuer und im neuen Bo<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r auf ihn zu. Alte<br />

Heimat kehrt in <strong>de</strong>r Ferne als neue zurück. Somit ist die Vergangenheit stets zukünftig. Es<br />

meint, dass wir unsere Heimat doch nie verlieren können, dass wir sie an<strong>de</strong>rerseits aber je<br />

und längst schon verloren haben. Nicht erst die Emigration aus <strong>de</strong>r schändlichen, unwürdig<br />

gewor<strong>de</strong>nen Heimat, die mit Gräueltaten selbst die heimische Sprache verunmöglichte, wie<br />

es viele Dichter und Denker Anfang <strong>de</strong>s 20. Jh. erfahren mussten, macht uns heimatlos und<br />

existenziell entwurzelt o<strong>de</strong>r, wie es einst <strong>de</strong>r Denker Lukacs in an<strong>de</strong>rem Zusammenhang<br />

formulierte, transzen<strong>de</strong>ntal obdachlos. Vielmehr ist es das Leben selbst, das uns <strong>de</strong>r Heimat<br />

entsetzt, das uns <strong>de</strong>m Wurzelgrund entreißt und in mannigfaltige Unheimlichkeiten<br />

katapultiert.<br />

Leben heißt existieren, ex-sistiere. Dies meint ein Hinausstehen, Transzendieren,<br />

Überschreiten. Es meint ein Verlassen, ein Hintersichlassen <strong>de</strong>s Gewohnten und Vertrauten,<br />

<strong>de</strong>r Herkunft und <strong>de</strong>r Heimat. Leben heißt: Auszug in die Heimatlosigkeit, Absprung vom<br />

Mutterbo<strong>de</strong>n, Schweben über <strong>de</strong>m Abgrund. Der Grund, <strong>de</strong>r einem dabei abgeht, ist die<br />

herkünftige Heimat. Das Schweben, das wir schwin<strong>de</strong>lnd erlei<strong>de</strong>n, ist die Ausgesetztheit in<br />

die Frem<strong>de</strong>, von <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n als Absprungsbo<strong>de</strong>n erst seinen Bezug, erst seine –<br />

rückge<strong>de</strong>utete – Schönheit erfährt. Doch <strong>de</strong>r Sprung kennzeichnet das, was allein Leben<br />

www.eXperimenta.<strong>de</strong> 10<br />

März <strong>2012</strong>

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