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Christus, Elf Visionen.

Rainer Maria Rilke, Christus Elf Visionen

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S 25<br />

<strong>Christus</strong> <strong>Elf</strong> <strong>Visionen</strong><br />

Bist du kein Freund von solchen Bacchanalen?<br />

Schau dieses Perlenkämpfen, wie das schäumt,<br />

schau dieses Perlendämpfen, wie sichs bäumt:<br />

Das ist der Weihrauch unsrer Kathedralen,<br />

der prickelnd sickert aus opalnen Schalen!<br />

Trink jetzt! Die Liebe lebe! ..Ausgeträumt!-"<br />

Und sie schlürft tief das Schaumgold des Pokals<br />

und läßt ihn, leer, im roten Schimmer blinken,<br />

und löst dann leise mit der weißen Linken<br />

die schweren Falten ihres Schultershawls.<br />

Und wie wenn sacht des Meeres Wellen sinken<br />

und aus der Flut im Glanz des Mainachtstrahls<br />

die Inseln tauchen mit den Silberzinken,<br />

so schimmert jetzt im Wogenqualm des Saals<br />

ihr Marmorhals. Und ihre Hände winken<br />

dem blassen Nachbar, suchend sehnsuchtleis.<br />

"Komm!" lispelt sie "und willst du ewig säumen?"<br />

Sie neigt sich näher und ihr Wort ist heiß:<br />

"Noch bist du jung! Komm, sei kein Tor! ich weiß<br />

was Beßres, als das Leben dumpf verträumen:<br />

das Leben leben! Nimm dir deinen Preis."<br />

Da packt es ihn, den neidlos, freudlos Kalten,<br />

und ganz im Bann verhaltener Gewalten<br />

wird alle Kraft in seiner Seele frei.<br />

Er faßt das Weib mit einem wilden Schrei<br />

und seine Finger krallt er in die Falten,<br />

und gleißend reißt das Seidenkleid entzwei.

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