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Christus, Elf Visionen.

Rainer Maria Rilke, Christus Elf Visionen

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S 33<br />

<strong>Christus</strong> <strong>Elf</strong> <strong>Visionen</strong><br />

8<br />

Die Waise<br />

Sie trollten sich. Es war ein schlecht Begängnis,-<br />

die letzte Klasse. Keine Glocke klang.<br />

Die Kleine sann: Lang war die Mutter krank,<br />

durch Jahre war die Stube ihr Gefängnis.<br />

Sie sagten Alle heute: Gott sei Dank -<br />

sie ist erlöst. - Ihr aber war so bang<br />

vor einem unerklärlichen Verhängnis.<br />

Ja, und was jetzt? Sie haben sie verscharrt.<br />

Du lieber Gott, was ist doch gar so hart<br />

der feuchte Hügel da von Schutt und Steinen.<br />

Und Mütterchen war doch gewohnt an Leinen<br />

als weiches Lager. Und ihr kommt ein Weinen.<br />

Warum sie sie so schlecht gebettet haben?<br />

Warum in dumpfe, schwarze Erde graben<br />

was hoch im Himmel helle Heimat hat? -<br />

Der Himmel! Das muß eine Märchenstadt<br />

mit goldnen Kuppeln sein und weißen Gassen,<br />

dort ist nur Licht und Liebe - nicht zu fassen,<br />

und niemand ist dort traurig und verlassen,<br />

und selig Singen ist dort alles Tun.<br />

Ein Stern ist Spielzeug wie das weiße Schaf,<br />

mit dem die Kleine wohl zu spielen traf,<br />

und ist dort oben eins besonders brav,<br />

darfs in des Mondes Silberwiege ruhn,<br />

verkrochen in der Wolken Flockenflaum.

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