23.06.2014 Aufrufe

Christus, Elf Visionen.

Rainer Maria Rilke, Christus Elf Visionen

Rainer Maria Rilke, Christus Elf Visionen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

S 43<br />

<strong>Christus</strong> <strong>Elf</strong> <strong>Visionen</strong><br />

10<br />

Judenfriedhof<br />

Ein Maienabend. - Und der Himmel flittert<br />

vor lauter Lichte. Seine Marken glühn.<br />

Die grauen Gräbersteine, moosverwittert,<br />

deckt jetzt der Frühling mit dem besten Blühn;<br />

so legt die Waise - und ihr Händchen zittert -<br />

auf Mutters totes Antlitz junges Grün.<br />

Hier dringt kein Laut her von der Straße Mühn,<br />

fernab verlieren sich die Tramwaygleise,<br />

und auf den weißen Wegen wandelt leise<br />

ins rote Sterben träumerisch der Tag.<br />

Der alte Judenfriedhof ists in Prag.<br />

Und Dämmer sinkt ins winklige Gehöf,<br />

drin Spiro schläft, der Held im Schlachtenschlagen,<br />

und mancher weise Mann, von dem sie sagen,<br />

daß zu der Sonne ihn sein Flug getragen,<br />

voran der greise hohe Rabbi Löw,<br />

um den noch heut verwaiste Jünger klagen.-<br />

Jetzt wird ein Licht wach in des Torwarts Bude,<br />

aus deren schlichtem Eisenschlote raucht<br />

ein karges Mahl. - Bei Liwas Grabe taucht<br />

jetzt langsam Jesus auf. Der arme Jude,<br />

nicht der Erlöser, lächelnd und erlaucht.<br />

Sein Aug ist voll von tausend Schmerzensnächten,<br />

und seine schmale blasse Lippe haucht:

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!