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Christus, Elf Visionen.

Rainer Maria Rilke, Christus Elf Visionen

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S 48<br />

<strong>Christus</strong> <strong>Elf</strong> <strong>Visionen</strong><br />

Er aber stand so einsam ernst und groß<br />

am Fuß der stolzen Treppe der Giganten,<br />

und seiner Blicke dunkle Bogen spannten<br />

sich nach dem Fenster, dessen Flächen brannten:<br />

sie heißen es das Fenster Pellico`s.<br />

Er nickte leise, so als stände jener<br />

noch dort, der einst in ewig öder Haft<br />

ergeben wie ein echter Nazarener<br />

verzichtete auf Zorn und Kampf und Kraft.<br />

Vielleicht giebt er den Gruß zurück und rafft<br />

des Vorhangs Falten. Wenn noch seinen Namen<br />

Verliebte, (die) des Wegs vorüberkamen,<br />

zusammenträumen mit den Sündendramen,<br />

erschien er hoch im heißen Fensterrahmen,<br />

er lächelte das Lächeln einer zahmen<br />

in Fesseln müd gewordnen Leidenschaft. -<br />

Und jener unten lächelte es mit.<br />

Dann stieg er stufenan mit scheuem Schritt<br />

und stand oft still, im vollen Abendscheine,<br />

drin die Arkaden, wie versteinte Haine,<br />

zu harren schienen, daß er sie durchweine,<br />

so traurig war er; denn es war der Eine,<br />

der immer dankte, wenn er sprach: ich litt.<br />

Sein Haupt war schwer, und schweren Fußes ging<br />

er in die leeren Marmorbogengänge,<br />

an denen wie vergessenes Gepränge<br />

der rote, raschverwelkte Abend hing.

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