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Christus, Elf Visionen.

Rainer Maria Rilke, Christus Elf Visionen

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S 76<br />

<strong>Christus</strong> <strong>Elf</strong> <strong>Visionen</strong><br />

I<br />

Ich hielt mich überoffen, ich vergaß<br />

dass draußen nicht nur Dinge sind und voll<br />

in sich gewohnte Tiere, deren Aug<br />

aus ihres Lebens Rundung anders nicht<br />

hinausreicht als ein eingerahmtes Bild;<br />

dass ich in mich allem immerfort<br />

Blicke hineinriss: Blicke, Meinung, Neugier.<br />

Wer weiß, es bilden Augen sich im Raum<br />

und wohne bei. Ach nur zu dir gestürzt,<br />

ist mein Gesicht nicht ausgestellt, verwächst<br />

in dich und setzt sich dunkel<br />

unendlich fort in dein geschütztes Herz.<br />

II<br />

Wie man ein Tuch vor angehäuften Atem,<br />

nein: wie man es an eine Wunde presst,<br />

aus der das Leben ganz, in einem Zug,<br />

hinauswill, hielt ich dich an mich: ich sah,<br />

du wurdest rot von mir. Wer spricht es aus,<br />

was uns geschah? Wir holten jedes nach,<br />

wozu die Zeit nie war. Ich reifte seltsam<br />

in jedem Antrieb übersprungener Jugend,<br />

und du, Geliebte, hattest irgendeine<br />

wildeste Kindheit über meinem Herzen.<br />

III<br />

Entsinnen ist da nicht genug, es muss<br />

von jenen Augenblicken pures Dasein<br />

auf meinem Grunde sein, ein Niederschlag<br />

der unermesslich überfüllten Lösung.<br />

Denn ich gedenke nicht, das, was ich bin<br />

rührt mich um deinetwillen. Ich erfinde<br />

dich nicht an traurig ausgekühlten Stellen,<br />

von wo du wegkamst; selbst, dass du nicht da bist,<br />

ist warm von dir und wirklicher und mehr<br />

als ein Entbehren. Sehnsucht geht zu oft<br />

ins Ungenaue. Warum soll ich mich<br />

auswerfen, während mir vielleicht dein Einfluss<br />

leicht ist, wie Mondschein einem Platz am Fenster<br />

Rainer Maria Rilke

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