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Christus, Elf Visionen.

Rainer Maria Rilke, Christus Elf Visionen

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S 47<br />

<strong>Christus</strong> <strong>Elf</strong> <strong>Visionen</strong><br />

11<br />

Venedig<br />

Die junge Nacht liegt wie ein kühler Duft<br />

auf dem Canal , und grauer nun und greiser<br />

sind die Paläste und die Gondeln leiser,<br />

als führte jede einen toten Kaiser<br />

in seine Gruft.<br />

Und viele fahren, aber eine schwenkt<br />

jetzt scheu und ängstlich in die tiefsten Gassen,<br />

weil tiefste Liebe oder tiefstes Hassen<br />

ihr Steuer lenkt.<br />

Vor einem Marmorhaus mit staubger Zier<br />

drängt sie sich horchend an die Wappenpfähle.<br />

Und lange ruhte keine Gondel hier.<br />

Die Stufen warten. - Fern aus heller Kehle<br />

am Canal grande singt ein Gondolier,<br />

und suchend irrt sein Lied durch die Kanäle.<br />

Der Fremde steht und trinkt den Klang voll Gier,<br />

in lauter Lauschen löst sich seine Seele:<br />

Vorrei morir...<br />

Der Abend zog vorbei am Erdgeschoß<br />

des Dogenhofs, und die Reflexe rannten<br />

hin wie ein Schwarm von wunden Flagellanten.

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