4 Individuelle Unterschiede des Verstehens - Universität Bamberg
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4 <strong>Individuelle</strong> <strong>Unterschiede</strong> <strong>des</strong> <strong>Verstehens</strong> – 181<br />
Janas Interpretation enthält zwei Prozesse der Unbestimmtheitsreduktion: Der Wortanfang<br />
„Schluß-“ wird ausgetauscht durch das Adjektiv „das letzte“ (Austausch aufgrund<br />
semantischer Ähnlichkeit: „Vielleicht ist es das letzte Gedicht eines Dichters oder einer<br />
Dichterin.“), wobei zwei weitere Alternativen <strong>des</strong> Austauschs in Betracht gezogen, aber dann<br />
verworfen werden („Vielleicht ist es ... Schluss-Strich oder Schluss – aus.“). Für den zweiten<br />
Teil <strong>des</strong> Kompositums, das „Stück“, wird diejenige Interpretation gewählt (Auflösung<br />
lexikalischer Mehrdeutigkeit), die sich mit dem Super-Schema „Gedicht“ oder „Text“<br />
verbinden lässt („Weil ein Gedicht bzw. ein Text ist ja auch ein Stück“).<br />
Der erste Satz „Der Tod ist groß“ wird als Allegorie aufgefasst:<br />
„Den ersten Satz „Der Tod ist groß“ finde ich ziemlich eindrucksvoll. Größer als<br />
ich - wahrscheinlich sogar, weil ich ja irgendwann auch sterbe.“<br />
Versuchspersonen-Beispiel 49: Verstehen der Metapher „Der Tod ist groß“<br />
(Versuchsperson Jana).<br />
Jana baut ein Schema auf, in welchem der Tod als Akteur personifiziert wird (Anpassung<br />
der Objekte an die grammatikalische Stelle) und das Merkmal „groß“ zugewiesen bekommt.<br />
Ein Objekt kann immer nur in Bezug auf ein anderes groß sein. Jana baut das Schema weiter aus<br />
und setzt sich selbst in die Szene ein (<strong>Individuelle</strong> Ausgestaltung (Elaboration): „Größer als<br />
ich“). Groß wird jedoch nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinn verstanden. Der Tod als<br />
Akteur hat einen großen Handlungsspielraum, er ist mächtig (Austausch aufgrund<br />
semantischer Ähnlichkeit, Synthese von Subschemata), weil er eines Tages auch die<br />
Versuchsperson selbst bezwingt (<strong>Individuelle</strong> Ausgestaltung: Amplifikation: „weil ich ja<br />
irgendwann auch sterbe.“).<br />
Auch bei der Interpretation dieses Gedichts zeigt Jana, dass sie anhand der aufgebauten<br />
Schemata eine bildhafte Vorstellung entwickelt und diese weiter ausbaut (<strong>Individuelle</strong><br />
Ausgestaltung: Amplifikation):<br />
„Es ist ein ziemlich schlichter Satz, so ganz am Anfang. Der einzige Grundsatz.<br />
Irgendwie stelle ich mir da was großes Schwarzes vor. Also nicht etwas was<br />
gewaltig wirkt, sondern eher etwas, das diffus wirkt, etwas im Hinterkopf, etwas<br />
das ich gar nicht immer sehe, etwas was aber trotzdem immer da ist.“<br />
Versuchspersonen-Beispiel 50: Aufbau einer bildhaften Vorstellung bei der<br />
Interpretation von „Der Tod ist groß“ und individuelle Ausgestaltung der Szene<br />
(Versuchsperson Jana).<br />
Der nächste Textabschnitt enthält eine Reihe von Verbindungen, die mit Inhalten <strong>des</strong><br />
Langzeitgedächtnisses übereinstimmen. Jana paraphrasiert die Formulierung „Wir sind die<br />
Seinen“ („...gehen über Besitzverhältnisse. Dass der Tod uns praktisch besitzt“), übernimmt die<br />
zeitliche Relation „wenn“ und baut die Schemata „lachen“ und „leben“ mit ein. Für die<br />
Neukonstruktion der Grammatik ist es notwendig, zu abstrahieren. Die Textelemente<br />
„lachenden Munds“ und „wenn wir uns mitten im Leben meinen“ werden auf übergeordnete<br />
Aktionsschemata („lachen“ und „leben“) reduziert, Feinheiten, wie die Formulierung „wir<br />
meinen uns mitten im Leben“ werden zunächst ausgelassen.