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4 Individuelle Unterschiede des Verstehens - Universität Bamberg

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<strong>Individuelle</strong> <strong>Unterschiede</strong> <strong>des</strong> <strong>Verstehens</strong> - 208<br />

Schluß-Stück beispielsweise zunächst den Titel und gehen anschließend das Gedicht Zeile für<br />

Zeile durch. Andere lesen den gesamten Gedichttext in einem Stück. Ihre Erinnerung an den<br />

Text bildet dann die Grundlage für die Interpretation. Werden kleine Einheiten wie Sätze oder<br />

Satzteile interpretiert, so werden Diskrepanzen augenfälliger. Um Verstöße gegen die<br />

Grammatik oder lexikalische Mehrdeutigkeiten zu erkennen, müssen kleinere Textabschnitte<br />

analysiert werden. Bei größeren Textabschnitten trägt bereits das Vergessen dazu bei, dass<br />

inkohärenter oder widersprüchlicher Inhalt unbeachtet bleibt. Je kleiner die gewählte<br />

Interpretationseinheit <strong>des</strong>to höher ist also die Wahrscheinlichkeit, dass sich im<br />

Arbeitsgedächtnis diskrepante Inhalte befinden, die aufgelöst werden müssen.<br />

Ein weiterer Faktor ist die Strenge der Prüfprozesse, die Genauigkeit mit der das<br />

Gelesene im Hinblick auf Diskrepanzen zu Inhalten <strong>des</strong> Langzeitgedächtnisses geprüft wird. Es<br />

geht dabei um die Frage, welche Textteile übernommen und welche modifiziert werden.<br />

Lockere Prüfprozesse führen dazu, dass der Text unverändert bleibt. Statt<strong>des</strong>sen wird versucht,<br />

den Text einzuordnen (Subsumption) oder Inhalte <strong>des</strong> Gedächtnisses zu aktivieren, die mit dem<br />

Gelesenen verknüpft sind (individuelle Ausgestaltung). Sehr strenge Prüfprozesse führen dazu,<br />

dass relativ viele Diskrepanzen, auch in der Phase <strong>des</strong> Schema-Aufbaus, entdeckt werden, die<br />

durch Austausch- und Syntheseprozesse beseitigt werden. Größere Interpretationseinheiten<br />

führen dazu, dass nicht der genaue Wortlaut <strong>des</strong> Textes verarbeitet wird, sondern einzelne<br />

Elemente übernommen werden und ihre Komposition ergänzt wird. Doch die lockere<br />

Übernahme <strong>des</strong> Textinhalts werden einige Diskrepanzen bereits beseitigt, bevor Prüfprozesse<br />

stattfinden. Die Wahl der Interpretationseinheit bestimmt, ob Diskrepanzen wahrgenommen<br />

bzw. erinnert werden; von der Strenge der Prüfprozesse hängt es ab, ob Unstimmigkeiten<br />

toleriert oder korrigiert werden.<br />

Beide Faktoren werden über den Auflösungsgrad moduliert. Ein grober Auflösungsgrad,<br />

beispielsweise unter Zeitdruck, führt dazu, dass der Text lediglich überflogen wird, im Ganzen<br />

interpretiert wird und Unstimmigkeiten nicht entdeckt bzw. hingenommen werden. Ein feiner<br />

Auflösungsgrad bewirkt, dass selbst einzelne Wörter, wie beispielsweise das „Schluß-Stück“,<br />

analysiert werden. Der Auflösungsgrad bestimmt auch die Auswahl zwischen den Prozessen<br />

Neubau und Subsumption. Die Grob- bzw. Feinkörnigkeit der Verarbeitung betrifft nicht nur<br />

die Betrachtung und Prüfung <strong>des</strong> Textes, sondern auch die Suchprozesse im Gedächtnis.<br />

Konvergente Suchprozesse können auf grobem Auflösungsniveau ablaufen. Ein konvergenter<br />

Suchprozess besteht darin, dass in der hierarchischen Struktur der Schemata auf der<br />

übergeordneten Ebene nach einem Schema gesucht wird, das mit den aktuell aktiven Schemata<br />

verbunden ist. Sucht man dagegen nach Relationen zwischen den aktiven Knoten oder nach<br />

gemeinsamen Elementen, so erfordert dies eine differenziertere Verarbeitung und damit einen<br />

feineren Auflösungsgrad. Der Auflösungsgrad ist somit der entscheidende Parameter, der die<br />

Auswahl der Prozesse mitbestimmt.<br />

Die Kompetenz wurde bereits in den Einzelfallanalysen als Parameter zur Erklärung von<br />

<strong>Unterschiede</strong>n zwischen Versuchspersonen herangezogen. Ein niedriges Kompetenzempfinden<br />

kann zu einem vorzeitigen Abbruch der Rezeption führen. Fühlt sich eine Person der hohen<br />

Unbestimmtheit <strong>des</strong> Textes nicht gewachsen, so wird sie aufhören, sich mit dem Text zu<br />

beschäftigen und ihn als „wirr“ oder „unverständlich“ bezeichnen. Die Kompetenz beeinflusst<br />

auch das Ausmaß der individuellen Ausgestaltung. Eine ausführliche Ausgestaltung ist dann zu<br />

beobachten, wenn die wichtigsten Diskrepanzen im Text beseitigt wurden, gleichgültig mit

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