4 Individuelle Unterschiede des Verstehens - Universität Bamberg
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<strong>Individuelle</strong> <strong>Unterschiede</strong> <strong>des</strong> <strong>Verstehens</strong> - 216<br />
<strong>Individuelle</strong> Präferenzen für bestimmte Prozesse der Unbestimmtheitsreduktion beim<br />
Verstehen von Gedichten lassen sich vereinfacht anhand von drei Stilen beschreiben: Die sog.<br />
„Konstrukteure“ greifen aus der Textvorlage einzelne Elemente heraus und setzen diese auf<br />
sinnvolle Art und Weise zusammen. „Restaurateure“ beschäftigen sich in mühsamer<br />
Detailarbeit damit, den Text so lange zu modifizieren, Teile auszutauschen und miteinander zu<br />
verbinden, bis eine in sich konsistente Einheit entsteht. „Buchhalter“ versuchen, Textteile<br />
semantisch zu gruppieren und unter ein übergeordnetes Thema zu stellen. Ihre<br />
Problemlöseprozesse bestehen vorwiegend aus der Bildung von Abstrakta.<br />
Schließlich wurde anhand eines Zuordnungsexperiments gezeigt, dass der persönliche Stil,<br />
mit Textunbestimmtheit umzugehen, unabhängig von den spezifischen Anforderungen <strong>des</strong><br />
Textes die Bearbeitung bestimmt. Werden Textinterpretationen unter Zuhilfenahme <strong>des</strong> Modells<br />
analysiert, so können die Interpretationen unterschiedlicher Texte einer bestimmten<br />
Versuchsperson identifiziert werden. Anhand typischer Präferenzen bestimmter Prozesse der<br />
Unbestimmtheitsreduktion und insbesondere charakteristischer Abfolgen von Prozessen kann<br />
eine Versuchsperson erkannt werden. Ebenso können Ausprägungen der Parameter<br />
„Auflösungsgrad“ und „Kompetenz“ und charakteristische Veränderungen der Parameterwerte<br />
im Verlauf der Interpretation zur Identifikation einer Person genutzt werden.<br />
Im vierten Kapitel werden zwei Ziele verfolgt: Der Schwerpunkt liegt auf der Ermittlung<br />
individueller <strong>Unterschiede</strong> beim Verstehen. Durch die Einzelfallanalysen wurde das Spektrum<br />
unterschiedlicher Verarbeitungsweisen aufgezeigt und es wurden drei Stile im Umgang mit<br />
Textunbestimmtheit ermittelt. Um jedoch die Parameter zu bestimmen, die für die Entstehung<br />
der Stile verantwortlich sind, sind Folgestudien notwendig. Die Ausführungen dieses Kapitels<br />
liefern hierfür lediglich erste Anhaltspunkte. Die Weiterentwicklung <strong>des</strong> Modells in Form einer<br />
exakten Parametrisierung stellt eine Herausforderung für zukünftige Arbeiten dar. Die zweite<br />
Zielsetzung <strong>des</strong> Kapitels ist die Überprüfung <strong>des</strong> Modells. Einen Beitrag hierfür leisten die<br />
Einzelfallanalysen und das Zuordnungsexperiment. Diese Beiträge sind jedoch bestenfalls als<br />
Indizien zu werten. Eine systematische einzelfallanalytische Überprüfung und Modifikation <strong>des</strong><br />
Modells eröffnet ein weiteres Aufgabenfeld für zukünftige Forschungsarbeiten. Auch eine<br />
genaue Systematisierung unterschiedlicher Arten von Textunbestimmtheit würde die Schema-<br />
Theorie um einen wichtigen Aspekt ergänzen.<br />
Insgesamt liefert das vierte Kapitel jedoch wertvolle Anhaltspunkte für eine<br />
„Persönlichkeitspsychologie <strong>des</strong> Textverstehens“. Textinterpretationen eröffnen interessante<br />
Einblicke in die Struktur kognitiver Prozesse. Möglicherweise wird es zukünftigen Arbeiten<br />
gelingen, Textinterpretationen als eine neue Testform im Bereich der Diagnose kognitiver<br />
Leistungsmerkmale wie Flexibilität, Einfallsreichtum, Breite und Tiefe der Verarbeitung oder<br />
der Fähigkeit zur Analogiebildung einzusetzen.