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4 Individuelle Unterschiede des Verstehens - Universität Bamberg

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4 <strong>Individuelle</strong> <strong>Unterschiede</strong> <strong>des</strong> <strong>Verstehens</strong> – 197<br />

unterschiedliche Interpretationen bekommen. Dies ist nicht weiter verwunderlich, denn jede<br />

Person verfügt über andere Erfahrungen, hat andere Bilder und Eindrücke im Kopf, die aktiviert<br />

werden, wenn sie bestimmte sprachliche Ausdrücke liest. Entsprechend ist jede<br />

Textinterpretation etwas Einzigartiges. Aus der Gedichtinterpretation einer Person könnte man<br />

keinerlei Rückschlüsse ziehen, wie die gleiche Person ein anderes Gedicht bearbeitet, ja nicht<br />

einmal wie dieselbe Person dasselbe Gedicht einige Monate später interpretiert. In der<br />

Zwischenzeit hat diese Person vielleicht andere Eindrücke gesammelt, vielleicht in Paris den<br />

Jardin de Luxembourg besucht, und wird beim Lesen <strong>des</strong> „springbrunnens“ ganz andere Bilder<br />

und Assoziationen entwickeln als zuvor.<br />

Die genauen Inhalte der Interpretationen lassen sich wohl kaum prognostizieren, wohl aber<br />

die Form. Manche Versuchspersonen analysieren Zeile für Zeile ein Gedicht. Sie gehen auf<br />

nahezu jede Formulierung ein und denken so lange über einzelne Textpassagen nach, bis sie zu<br />

einer schlüssigen Interpretation gelangen. Sie verzweifeln schier an den Gedankensprüngen<br />

Jandls und entwickeln bei dem Titel „Schluß-Stück“ mehrere Bedeutungsalternativen, um im<br />

Gedicht weiter nach Indizien zu suchen, die eine bestimmte Alternative favorisieren. Anderen<br />

Versuchspersonen genügt es, aus einem Gedicht ein übergeordnetes Thema abzuleiten.<br />

Ausgehend von diesem Thema entwickeln sie dann Gedankenstränge, die nur noch am Rande<br />

mit dem Gedicht, dafür um so mehr mit der eigenen Person zu tun haben. Sie erinnert das<br />

„Schluß-Stück“ an den Tod ihrer Großmutter und das Lesen <strong>des</strong> „springbrunnens“ regt sie dazu<br />

an, von ihrem letzten Griechenlandurlaub zu erzählen. Wieder andere überfliegen den Text nur<br />

grob. Sie erinnern sich an bestimmte Elemente und stellen diese in einen Zusammenhang. Ihre<br />

Interpretationen enthalten sowohl Fragmente <strong>des</strong> Textes als auch hinzugefügte Details und<br />

Assoziationen. Aus dem Text werden diejenigen Elemente ausgewählt, die zur Gesamtaussage<br />

passen. Entsprechende Textpassagen werden nochmals nachgelesen und genauer analysiert.<br />

Jede Versuchsperson entspricht – mehr oder minder prototypisch – einer dieser drei skizzierten<br />

Vorgehenstypen. Wie diese Vorgehenstypen ermittelt wurden beschreibt der folgende<br />

Abschnitt.<br />

Im Abschnitt 4.2.2 wird ein Versuch beschrieben, in dem die Teilnehmer gebeten wurden,<br />

die Interpretation einer bestimmten Versuchsperson aus insgesamt zehn Interpretationen<br />

herauszufinden. Durch die Untersuchung kann zum einen gezeigt werden, dass das Modell <strong>des</strong><br />

Textverstehens dazu beitragen kann, diese Stile zu identifizieren. Zum anderen wird deutlich,<br />

dass sich ein individueller Stil in allen Interpretationen bemerkbar macht, mögen die Texte noch<br />

so unterschiedlich sein.<br />

4.2.1 Vorgehensstile<br />

Um herauszufinden, auf welch unterschiedliche Art und Weise Texte verarbeitet werden,<br />

wurden Versuchsteilnehmer mit fünf möglichst unterschiedlichen Gedichttexten konfrontiert.<br />

Je<strong>des</strong> der Gedichte stellt unterschiedliche Anforderungen an den Rezipienten (vgl. Abschnitt<br />

4.2.1.1.3).<br />

Dennoch bevorzugen einzelne Probanden bestimmte Strategien <strong>des</strong> <strong>Verstehens</strong>. So kann<br />

man beobachten, dass ein bestimmter Stil mit Texten umzugehen, sich durch alle<br />

Textinterpretationen durchzieht.

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