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Psychotherapeutenjournal 2/2013 (.pdf)

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T. Fuchs<br />

und erhielten Namen wie Ich, Unbewusstes,<br />

Über-Ich usw.<br />

All dies ist von Phänomenologen immer<br />

wieder vehement kritisiert worden (z. B.<br />

Binswanger, 1957; May, 1964; Hersch,<br />

2003). Auf der anderen Seite hatte es die<br />

Phänomenologie, die sich ja primär als<br />

Wissenschaft des Bewusstseins verstand,<br />

bis heute schwer, eine alternative Theorie<br />

des Unbewussten zu entwickeln. Jedenfalls<br />

ist das Unbewusste aus phänomenologischer<br />

Sicht kein innerpsychischer Ort<br />

oder Raum, der atomistische, dingartige<br />

Entitäten beherbergt. Nicht fixierte „Objekte“<br />

oder Erinnerungen sind unbewusst,<br />

sondern vielmehr Bereitschaften, Tendenzen<br />

und Potenziale im Leben einer Person.<br />

Ein phänomenologischer Ansatz wird das<br />

Unbewusste daher eher im Lebensvollzug<br />

aufsuchen, also in der impliziten Weise,<br />

wie der Patient lebt und sich verhält, und<br />

vor allem, wie er nicht lebt. Dieser Ansatz<br />

konvergiert mit Ergebnissen der neueren<br />

Gedächtnisforschung zur zentralen Bedeutung<br />

des impliziten oder prozeduralen Lernens,<br />

das unseren gewohnten Verhaltensund<br />

Handlungsweisen im Alltag ebenso<br />

zugrunde liegt wie unseren unbewussten<br />

Vermeidungen von Handlungen (Schacter,<br />

1999; Fuchs, 2000c).<br />

In eine ähnliche Richtung zielte bereits die<br />

phänomenologische Interpretation der unbewussten<br />

Nachwirkung eines Traumas,<br />

die der französische Phänomenologe Merleau-Ponty<br />

gegeben hat. Das Verdrängte<br />

gleicht, so Merleau-Ponty, dem Phantomglied<br />

bei Amputierten, insofern es eine<br />

„Leerstelle“ der Subjektivität darstellt (Merleau-Ponty,<br />

1965, S. 111). Es ist gleichsam<br />

das Negativ einer vergangenen, aber unbewältigten<br />

Erfahrung, das sich unbemerkt<br />

jeder neuen Situation überschiebt und damit<br />

den Traumatisierten in einer immer<br />

noch gegenwärtigen Vergangenheit festhält.<br />

„Die Traumaerfahrung wahrt ihren Bestand<br />

nicht in Gestalt einer Vorstellung des<br />

objektiven Bewusstseins und als datierbares<br />

Vorkommnis, vielmehr ist es ihr wesentlich,<br />

nur fortzuleben in einem Stil des<br />

Seins und in einem gewissen Grade von<br />

Allgemeinheit“ (ebd., S. 108).<br />

Dem impliziten oder leiblichen Gedächtnis<br />

gehört also das an, was sich „hinter dem<br />

Blick verbirgt“ und nur in einem allgemeinen<br />

„Stil“ der Existenz, nicht als explizierbare<br />

Erinnerung fortlebt, und dazu zählen<br />

auch traumatische Erfahrungen. Unbewusste<br />

Fixierungen gleichen, so können<br />

wir diesen Gedanken weiterführen, bestimmten<br />

Verzerrungen oder Einschränkungen<br />

im Möglichkeitsraum einer Person,<br />

hervorgerufen durch eine implizit immer<br />

noch gegenwärtige Vergangenheit, die<br />

sich dem Fortgang der Lebensbewegung<br />

verweigert. Deren Spuren sind freilich<br />

nicht in einer psychischen Innenwelt verborgen,<br />

sondern manifestieren sich vielmehr<br />

als „blinde Flecken“ oder Leerstellen<br />

im gelebten Raum: als die Muster, in die<br />

ein Mensch immer wieder hineingerät, die<br />

Handlungen, die er vermeidet, ohne es zu<br />

merken, die Räume, die er nicht betritt, die<br />

Lebensmöglichkeiten, die er nicht zu ergreifen,<br />

ja gar nicht zu sehen wagt. Solche<br />

Spuren werden also eher als „Negativ“ erkennbar,<br />

eben in Form der Hemmungen<br />

oder Unterlassungen, die für eine Person<br />

charakteristisch sind; sie können sich aber<br />

auch symbolisch oder leiblich aktualisieren,<br />

nämlich in psychosomatischen oder<br />

Konversionssymptomen.<br />

Statt einer deterministischen Sicht des Unbewussten<br />

betont eine phänomenologische<br />

Sicht allerdings seinen offenen, prinzipiell<br />

zukunftsgerichteten Charakter. Denn<br />

das Unbewusste fixiert den Betroffenen<br />

zwar in der Vergangenheit, enthält aber<br />

doch zugleich seine künftigen Entwicklungsmöglichkeiten.<br />

Unbewusst sind gerade<br />

die Potenziale des Wahrnehmens und<br />

Handelns, die die Person noch nicht aktualisieren<br />

kann oder will: „Dieses Unbewusste<br />

ist nicht in unserem Innersten zu<br />

suchen, hinter dem Rücken unseres ‚Bewusstseins‘,<br />

sondern vor uns als Gliederung<br />

unseres Feldes. Es ist Unbewusstes<br />

dadurch, daß es nicht Objekt ist, sondern<br />

(…) es ist die Konstellation, aus der unsere<br />

Zukunft ablesbar ist.“ (Merleau-Ponty,<br />

1986, S. 233) – Zukunft, insofern das Unbewusste<br />

bestimmte Möglichkeiten des<br />

Verhaltens und Vermeidens vorzeichnet.<br />

Widerstand und Wiederholungszwang<br />

Auf dieser Grundlage gebe ich nun eine<br />

kurze phänomenologische Interpretation<br />

zweier zentraler psychodynamischer Konzepte,<br />

nämlich (1) der Abwehr bzw. des<br />

Widerstands und (2) des Wiederholungszwangs.<br />

(1) Die Wirkung eines emotionalen Traumas<br />

auf die Person lässt sich als eine<br />

spezifische Einengung ihres gelebten<br />

Raums auffassen, hervorgerufen von<br />

einer Vermeidungshaltung, die sie gegenüber<br />

gewissen ängstigenden Regionen<br />

oder „repulsiven Räumen“ einnimmt.<br />

Eine Analogie dazu stellt die<br />

körperliche Schonhaltung nach einer<br />

Verletzung dar: Instinktiv vermeidet<br />

man, das verletzte Glied gefährlichen<br />

Objekten auszusetzen und zieht es zurück<br />

(„gebranntes Kind scheut das<br />

Feuer“). Dass dies meist unbewusst<br />

geschieht, beruht nicht auf der Verdrängung<br />

des Unfalls, sondern einfach<br />

auf einem unwillkürlichen leiblichen<br />

Lernprozess. Ähnlich erzeugt aber<br />

auch das psychische Trauma Vermeidungszonen<br />

und behindert so die freie<br />

Entfaltung der eigenen Möglichkeiten.<br />

Der gelebte Raum des Traumatisierten<br />

ist um diese Zonen herum gewissermaßen<br />

negativ gekrümmt: Sie sind zu<br />

Leerstellen oder „blinden Flecken“ geworden.<br />

Auch hier zeigt sich deutlich<br />

die Intentionalität des Unbewussten:<br />

Ein drohender Kontakt mit der Gefahrenzone<br />

wird auch ohne bewusste<br />

Wahrnehmung bereits antizipatorisch<br />

verhindert, weil es sinnvoll ist, den<br />

Stress und die Angst der Traumaerfahrung<br />

nicht immer wieder zu reaktivieren.<br />

Der Widerstand der psychodynamischen<br />

Theorie ist oft nichts anderes<br />

als die Manifestation einer solchen<br />

Vermeidungshaltung im Kontext der<br />

Psychotherapie.<br />

(2) Das entgegengesetzte Muster kann<br />

man im psychodynamischen Konzept<br />

des Wiederholungszwangs finden:<br />

Hier wird der Patient immer wieder in<br />

das gleiche dysfunktionale Verhaltensund<br />

Beziehungsmuster hineingezogen,<br />

auch wenn er gerade das zu verhindern<br />

versucht. Der gelebte Raum<br />

ist gewissermaßen „positiv gekrümmt“<br />

um diese Regionen, d. h., sie üben<br />

eine implizite Attraktion aus. Wenn<br />

z. B. die frühen Erfahrungen einer Person<br />

durch missbrauchende und ge-<br />

<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 2/<strong>2013</strong><br />

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