Psychotherapeutenjournal 2/2013 (.pdf)
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Buchrezensionen<br />
Sohni, H. (2011). Geschwisterdynamik (Analyse der Psyche und Psychotherapie,<br />
Bd. 4). Gießen: Psychosozial Verlag. 140 Seiten. 16,90 €.<br />
Dorothee Adam-Lauterbach<br />
Hans Sohni, Facharzt für Psychotherapeutische<br />
Medizin, Kinder- und Jugendpsychiatrie<br />
und Psychoanalyse, Psychoanalytiker<br />
und Familientherapeut, hat einen Beitrag<br />
zur Konzeptualisierung der Geschwisterdynamik<br />
verfasst, in dem er psychoanalytische,<br />
entwicklungspsychologische, familiendynamische<br />
und systemtheoretische<br />
Aspekte der Geschwisterbeziehung mit<br />
seinem psychotherapeutischen Erfahrungshintergrund<br />
verknüpft und veranschaulicht.<br />
Sohni konzeptualisiert die Dynamik der Geschwisterbeziehung<br />
im Rahmen des Diskurses<br />
der interrelationalen Psychoanalyse.<br />
Mit dem Begriff der „koevolutiven Geschwisterdynamik“<br />
hebt er mithilfe empirischer<br />
entwicklungspsychologischer Befunde<br />
das entwicklungsfördernde Potenzial<br />
von Geschwistern hervor. Darüber hinaus<br />
werden Geschwisterbeziehungen vor dem<br />
Hintergrund familiendynamischer und familiensoziologischer<br />
Überlegungen beschrieben.<br />
Erfreulich ist dabei, dass der Autor<br />
auch Geschwisterbeziehungen in Patchwork-<br />
und Pflegefamilien betrachtet und auf<br />
die Situation von Einzelkindern eingeht. So<br />
erschließt sich dem Leser eine weite, über<br />
das herkömmliche Verständnis von Geschwistererfahrungen<br />
hinausgehende Perspektive.<br />
In seine Überlegungen bezieht<br />
Sohni interpersonale und systemische Theorien<br />
ein und versteht Entwicklung als interpersonalen<br />
Beziehungsprozess, in dem geschwisterliche<br />
Repräsentanzen als Ergänzung<br />
zu den Repräsentanzen der Elternobjekte<br />
eine wichtige Rolle spielen. In der<br />
Analyse der Geschwisterbeziehungen im<br />
Erwachsenenalter fokussiert Sohni auf den<br />
oftmals vorherrschenden Wunsch nach Nähe<br />
und Bezogenheit und betont die im<br />
mittleren Lebensalter oft notwendige Neustrukturierung<br />
der Geschwisterbeziehung.<br />
Die Krisenanfälligkeit dieser Phase durch<br />
neue Strukturierungen und Verteilung der<br />
Aufgaben im geschwisterlichen Subsystem<br />
werden eindringlich benannt, mit dem Ziel,<br />
Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten<br />
dafür zu sensibilisieren. Sohni betont,<br />
dass es in der Psychotherapie nicht<br />
nur darum gehe, die Geschwisterdynamik<br />
hinsichtlich der Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse<br />
aufzuspüren und zu<br />
bearbeiten, sondern die Geschwister auch<br />
als Ressource nutzbar zu machen.<br />
Im zweiten Teil des Buches veranschaulichen<br />
Fallbeispiele den psychotherapeutischen<br />
Nutzen, die Geschwisterperspektive<br />
sowohl in den verschiedenen Settings der<br />
analytischen Einzeltherapie von Erwachsenen,<br />
Kindern und Jugendlichen, in der<br />
Gruppen- und Familientherapie als auch in<br />
Supervision und Ausbildung einzubeziehen.<br />
Dabei geht es im Buch ebenso um<br />
die Genese psychopathologischer Geschwistererfahrungen<br />
wie Geschwisterverlust,<br />
Gewalt und Missbrauch, die Sohni in<br />
Abhängigkeit von der Pathologie der Eltern<br />
als Verschränkung der Eltern- mit der Geschwisterebene<br />
verstehbar macht.<br />
Sohni postuliert, dass sich das Gewordensein<br />
eines Patienten erst im Kontext seiner<br />
geschwisterlichen Komplementärdynamik<br />
erschließe. Ziel sei es, eine Horizontalisierung<br />
des psychotherapeutischen Prozesses<br />
zu erreichen.<br />
Der Anspruch, seiner Konzeptualisierung<br />
gerecht werden zu können, führt aber<br />
auch zu einer Schwäche des Buches.<br />
Denn die Vermischung von empirischen<br />
Befunden der Entwicklungspsychologie<br />
und Familiensoziologie mit systemtheoretischen<br />
und psychoanalytischen Konzepten<br />
ist – abgesehen von der Problematik,<br />
angesichts des Pluralismus innerhalb der<br />
psychoanalytischen Theoriebildung von<br />
der Psychoanalyse zu sprechen – zwar bereichernd,<br />
aber für eine Konzeptualisierung<br />
der Geschwisterdynamik m. E. zu<br />
breit angelegt. Gleichwohl unterstreicht<br />
Sohni damit umso mehr die Komplexität<br />
der Thematik, die sich dem Leser vor allem<br />
durch die prägnanten Fallbeispiele vermittelt.<br />
Der Einbezug der gruppen- und familientherapeutischen<br />
Perspektive ermöglicht<br />
es, die Geschwisterdynamik aus vielerlei<br />
Blickwinkeln sensibel nachvollziehen zu<br />
können – aber dies geht auch ein wenig<br />
auf Kosten einer differenzierteren Betrachtung<br />
etwa des Behandlungsprozesses in<br />
der analytischen Einzeltherapie.<br />
Letztendlich ist es Sohni aber gelungen,<br />
ein tiefes Verständnis der Geschwisterdynamik<br />
zu ermöglichen und zu zeigen, wie<br />
dies psychotherapeutisch nutzbar gemacht<br />
werden kann. Bemerkenswert ist<br />
zudem der Blick auf die Ressourcen, die<br />
Geschwisterbeziehungen im Lebensverlauf<br />
und im psychotherapeutischen Prozess<br />
innehaben können. Damit vermittelt<br />
sich dem Leser eine klinische Perspektive,<br />
die nicht nur eine Vertiefung, sondern<br />
auch eine Erweiterung psychotherapeutischen<br />
Handelns bedeutet.<br />
Dr. Dorothee Adam-Lauterbach,<br />
Berlin<br />
166 <strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 2/<strong>2013</strong>