Psychotherapeutenjournal 2/2013 (.pdf)
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Aktuelles aus der Forschung<br />
und das einzelpsychotherapeutische Setting<br />
die höchste.<br />
Kommentar: Die Begrenzungen der Studie<br />
liegen u. a. darin, dass eher „grobschlächtig“<br />
gemessen wurde; so ist etwa<br />
unklar, welche Form von Familientherapie<br />
im familientherapeutischen Setting<br />
durchgeführt wurde und welchen Standards<br />
sie genügte – dasselbe gilt für die<br />
anderen Settingvarianten. Auch erscheint<br />
das Maß EoC recht grob: So können Patienten<br />
mehrere EoC mit wenigen Sitzungen<br />
durchlaufen haben oder eine<br />
EoC mit vielen Sitzungen – die Patienten<br />
mit mehreren EoC würden sich aber etwa<br />
deutlich ungünstiger auf die Rezidivrate<br />
auswirken als die Patienten mit den<br />
vielen Sitzungen in einer EoC. Zudem<br />
handelt es sich hier um eine retrospektive<br />
Studie anhand von Versicherungsdaten,<br />
d. h., wir wissen nichts über Dropout-Raten<br />
und Selektivität der Stichproben<br />
sowie über deren Vergleichbarkeit.<br />
Dennoch sind die Ergebnisse dieser Studie<br />
und auch andere Studien aus der<br />
Forschungsgruppe um D. Russel Crane<br />
ein deutlicher Hinweis darauf, dass der<br />
Einbezug von Familienangehörigen in<br />
die Behandlung Psychotherapie effektiver<br />
und billiger machen kann. Zu dieser<br />
günstigen ökonomischen Beurteilung des<br />
familientherapeutischen Setting trägt bei,<br />
dass dieses mit einer geringeren Anzahl<br />
an Sitzungen auskommt und eine geringere<br />
Rezidivrate aufweist. Gerade bezüglich<br />
der Rückfallprophylaxe scheint sich<br />
der Einbezug von Familienangehörigen in<br />
die Behandlung sehr günstig auszuwirken,<br />
denn diesbezüglich war das gemischte<br />
Setting sogar dem einzeltherapeutischen<br />
Setting überlegen.<br />
Multisystemische Therapie bei schweren Störungen des Sozialverhaltens:<br />
eine kostengünstigere Alternative zu stationären Jugendhilfemaßnahmen?<br />
Rehberg, W., Fürstenau, U. & Rhiner, B.<br />
(2011). Multisystemische Therapie (MST)<br />
für Jugendliche mit schweren Störungen<br />
des Sozialverhaltens. Ökonomische Evaluation<br />
der Implementierung im deutschsprachigen<br />
Raum. Zeitschrift für Kinderund<br />
Jugendpsychiatrie und Psychotherapie,<br />
39 (1), 41-45.<br />
Multisystemische Therapie (MST) ist ein in<br />
den USA entwickeltes, evidenzbasiertes<br />
und dort, aber auch in einigen europäischen<br />
Ländern, z. B. in Dänemark oder<br />
den Niederlanden, praktiziertes Therapieprogramm<br />
zur Behandlung von Jugendlichen<br />
mit starken Verhaltensauffälligkeiten,<br />
wie etwa schwere Störungen des Sozialverhaltens,<br />
schwere Delinquenz oder<br />
schwerer juveniler Substanzmissbrauch.<br />
Die Zielgruppe von MST sind also häufig<br />
Jugendliche, die mit vorhandenen Therapie-<br />
und Jugendhilfemaßnahmen nur<br />
schlecht zu erreichen sind und deshalb für<br />
Gemeinden und Kommunen vor Ort oft<br />
eine große Herausforderung darstellen.<br />
MST steuert die Alltagsprobleme und -herausforderungen<br />
im familiären Zusammenleben<br />
an; sie fokussiert darauf, zielgerichtet<br />
konkrete Veränderungen in diesem Zusammenleben<br />
zu schaffen. Dies geschieht<br />
zusammen mit den Eltern oder Erziehungsberechtigten<br />
des Jugendlichen und<br />
all jenen relevanten sozialen Bezugspersonen<br />
und Systemen, die sie umgeben: der<br />
weiteren Familie, der Schule, Freunden,<br />
Peers, Nachbarn, dem Fußballtrainer und<br />
all jenen, die die Familie in ihrem Entwicklungsprozess<br />
unterstützen können. 3 Die<br />
MST folgt einem strukturierten Behandlungsmodell<br />
und umfasst eine schriftliche<br />
Therapieanleitung, in der die Behandlungsprinzipien<br />
formuliert und der diagnostische<br />
Prozess strukturiert sind (z. B.<br />
Henggeler, Sheidow & Lee, 2007). MST<br />
wird in einem aufsuchenden Setting<br />
durchgeführt und die Therapeuten können<br />
verschiedene Formen der Supervision in<br />
Anspruch nehmen; sie durchlaufen zudem<br />
einen Qualitätssicherungsprozess mit Einführungs-<br />
und Auffrischungstrainings sowie<br />
Beratung durch Experten. MST ist eine<br />
intensive Therapieform mit bis zu 15 Stunden<br />
Intervention pro Woche. Sie stellt als<br />
psychotherapeutische Methode eine Art<br />
Hybrid aus Systemischer und Verhaltenstherapie<br />
dar, wurde aber bei der wissenschaftlichen<br />
Anerkennung der Systemischen<br />
Therapie durch den Wissenschaftlichen<br />
Beirat Psychotherapie (WBP, nach<br />
§ 11 PsychThG) ihr zugerechnet.<br />
In der vorliegenden Studie wurde MST für<br />
den deutschsprachigen Raum adaptiert<br />
und erstmals bei 70 Jugendlichen im<br />
Schweizer Kanton Thurgau im Zeitraum<br />
Oktober 2007 bis Dezember 2009 angewendet<br />
(zur Finanzierung und institutionellen<br />
Ankopplung der MST in Thurgau vgl.<br />
Rhiner, Graf, Dammann & Fürstenau,<br />
2011). Es wurde die Frage untersucht, ob<br />
von der Anwendung der MST Einsparungseffekte<br />
gegenüber anderen Maßnahmen<br />
zu erwarten sind. Um neben den Prozessund<br />
Ergebnisaspekten der therapeutischen<br />
Intervention auch ökonomische Effekte<br />
der MST beurteilen zu können, wurden jene<br />
Fachpersonen, die die Jugendlichen in<br />
die MST zugewiesen hatten, danach befragt,<br />
welcher Behandlungsweg ihrer Meinung<br />
nach ohne MST wahrscheinlich gewesen<br />
wäre. Die Kostenfolgen dieser Behandlungswege<br />
wurden ermittelt und den<br />
tatsächlichen Kosten der MST gegenübergestellt.<br />
Das Ergebnis zeigt ein deutliches<br />
Einsparungspotenzial durch diese ambulante<br />
Therapieform: Die Fallkosten für die<br />
Durchführung der MST lagen um 40% bis<br />
64% unter den Kosten für außerfamiliäre<br />
Platzierungen, die nach Einschätzung der<br />
Zuweisenden ohne MST erforderlich gewesen<br />
wären. Die Autoren folgern, dass es<br />
sich bei MST nicht nur um ein effektives,<br />
sondern auch um ein relativ kostengünstiges<br />
Verfahren zur Behandlung von Jugendlichen<br />
mit schweren Störungen des Sozialverhaltens<br />
handelt.<br />
Kommentar: Als methodische Einschränkung<br />
der hier dargestellten Untersuchung<br />
ist, wie die Autoren selbst formulieren,<br />
u. a. festzuhalten, dass das Einsparpotenzial<br />
durch die Anwendung des Verfahrens<br />
3 Die Beschreibung von MST ist teils übernommen<br />
von der Internetseite: www.mstdeutschland.net<br />
162 <strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 2/<strong>2013</strong>