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Psychotherapeutenjournal 2/2013 (.pdf)

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Leib und Lebensraum – Das eingebettete Selbst in der Psychotherapie<br />

waltsame Beziehungen geprägt worden<br />

sind, wird die Spannbreite ihrer<br />

möglichen Beziehungen später sehr<br />

eingeengt sein. Die Formen des Missbrauchs<br />

mögen variieren, aber dieses<br />

Thema wird die Beziehungskonstellationen<br />

der Person bestimmen. Ihre<br />

impliziten Verhaltensmuster werden<br />

sich im Sinne einer Selbsterfüllung ihrer<br />

Erwartungen auswirken und den<br />

vertrauten Typus von Beziehungen<br />

konstellieren. Damit ist das Unbewusste<br />

keine verborgene Kammer der<br />

Psyche, sondern es ist gleichsam in<br />

die Lebensweise der Person eingewoben,<br />

bis in ihr leibliches Verhalten hinein<br />

(Fuchs, 2006).<br />

In ähnlicher Weise könnten auch andere<br />

psychodynamische Konzepte betrachtet<br />

werden, doch sollen die Beispiele genügen.<br />

Aus phänomenologischer Sicht, so<br />

zeigt sich, erscheint das Unbewusste nicht<br />

als eine in der Tiefe, „unter dem Bewusstsein“<br />

angesiedelte, intrapsychische Realität,<br />

sondern es umgibt und durchdringt<br />

vielmehr das bewusste Leben, so wie in<br />

einem Bilderrätsel die ausgeblendete Figur<br />

dem Vordergrund unterlegt ist. Es ist ein<br />

Unbewusstes, das sich nicht in der vertikalen<br />

Dimension der Psyche verbirgt, sondern<br />

vielmehr in der horizontalen Dimension<br />

des gelebten Raums und in der „Zwischenleiblichkeit“<br />

des konkreten Umgangs<br />

mit anderen. – Dies führt uns weiter zur<br />

Phänomenologie der psychotherapeutischen<br />

Interaktion.<br />

3. Das interaktive Feld<br />

der Psychotherapie<br />

Die Phänomenologie betrachtet psychische<br />

Erkrankungen nicht als etwas Innerseelisches,<br />

sondern als Veränderungen<br />

oder Störungen in der Leiblichkeit und Lebenswelt<br />

der Patienten, die in der Regel<br />

mit bestimmten Einschränkungen ihres<br />

Möglichkeitshorizontes einhergehen. Das<br />

Ziel der Behandlung wäre demnach, diesen<br />

Horizont wieder zu erweitern und die<br />

Freiheitsgrade des Patienten in seinem Lebensraum<br />

zu erhöhen. Das vorrangige Mittel<br />

dazu stellt aus phänomenologischer<br />

Sicht das interaktive Feld dar, das sich in<br />

der Begegnung von Patient und Psychotherapeut<br />

eröffnet.<br />

Gemäß den traditionellen Wirkungsmodellen<br />

versuchte die Psychotherapie, Veränderungen<br />

im Patienten hervorzurufen, etwa<br />

durch eine Restrukturierung seiner inneren<br />

Welt mittels kognitiver oder deutender<br />

Interventionen, die zu mehr Einsicht<br />

und dementsprechend zu angemesseneren<br />

Reaktionen auf seine Lebenssituation<br />

führen. Heute sehen wir in der Psychotherapie<br />

vor allem einen interpersonellen, auf<br />

zirkulären Interaktionen beruhenden Prozess,<br />

der sich mit einer Individualperspektive<br />

nicht erfassen lässt. Er impliziert eine<br />

gemeinsame Sinnkonstitution, die nicht<br />

als ein „Zustand im Kopf“ zu begreifen ist,<br />

sondern der Ko-respondenz oder dem<br />

„Zwischen“ von Patient und Psychotherapeut<br />

entspringt. Auf der Basis der Konzeption<br />

des gelebten Raumes können wir den<br />

interaktiven Prozess mit dem zentralen<br />

Begriff von Gadamers Hermeneutik auch<br />

als eine „Verschmelzung der Horizonte“<br />

von Patient und Psychotherapeut verstehen<br />

(Gadamer, 1972). Ihre phänomenalen<br />

Welten interagieren und verbinden sich zu<br />

einer emergenten, dyadischen Welt, die<br />

einen neuen Möglichkeitshorizont eröffnet.<br />

Zugleich werden unter der Beleuchtung<br />

des interaktiven Felds die blinden<br />

Flecken oder Leerstellen im Lebensraum<br />

des Patienten sichtbar. Eine maßgebliche<br />

Rolle in diesem Feld spielt die „Zwischenleiblichkeit“<br />

als nonverbale, leibliche ebenso<br />

wie atmosphärische Dimension des<br />

therapeutischen Geschehens, die im Hintergrund<br />

der verbalen Interaktion bleibt,<br />

aber die Beziehung zwischen Psychotherapeut<br />

und Patient eigentlich trägt (Fuchs,<br />

2003).<br />

Diese interaktive, dyadische Qualität der<br />

psychotherapeutischen Beziehung lässt<br />

sich jedoch im traditionellen Konzept von<br />

Übertragung und Gegenübertragung nicht<br />

zureichend erfassen. Diese Begriffe sind<br />

immer noch stark belastet von der Subjekt-Objekt-Trennung.<br />

Gefühle wurden in<br />

einer atomistischen Weise betrachtet, so<br />

als wären sie isolierte Entitäten, mit gewissen<br />

Energiebeträgen versehen und in der<br />

Lage, gespeichert, hin und her bewegt,<br />

von ihrem Objekt abgetrennt und auf eine<br />

andere Person projiziert zu werden. Damit<br />

wurde die Übertragung zu einem Anachronismus:<br />

Gefühle und Abwehrfunktionen,<br />

die eigentlich einer vergangenen Person<br />

gelten, werden stattdessen auf eine gegenwärtige<br />

verlagert. Übertragung und Gegenübertragung<br />

wurden zwar auf den anderen<br />

projiziert, ohne ihn jedoch selbst zu<br />

erreichen, d. h., sie blieben in der Person,<br />

die sie erfährt. – Diese Verdinglichung von<br />

Gefühlen entspricht sicher nicht der interaktiven<br />

und emergenten Natur der tatsächlichen<br />

Phänomene. Ein Psychotherapeut,<br />

der sich nur als eine Projektionsfläche<br />

betrachtete, wäre in Gefahr, die Dimension<br />

der eigentlichen Begegnung zu<br />

verfehlen.<br />

Ein Blick auf die Entwicklungspsychologie<br />

kann hier hilfreich sein. Die Säuglingsforschung<br />

hat gezeigt, dass nicht isolierte Bilder<br />

von anderen bzw. „Objekte“ im Gedächtnis<br />

niedergelegt werden, sondern<br />

vielmehr prozessuale Beziehungserfahrungen,<br />

Schemata dyadischer Interaktionen,<br />

die im sensorischen, motorischen und<br />

emotionalen Modus gespeichert werden.<br />

Von früher Kindheit an werden diese Schemata<br />

Teil des prozeduralen oder impliziten<br />

Gedächtnisses und bilden das, was Daniel<br />

Stern das „implizite Beziehungswissen“<br />

(implicit relational knowledge, Stern,<br />

1998b) genannt hat. Es enthält die erlernten<br />

Muster körperlich-emotionaler Interaktionen,<br />

die durch subtile Merkmale einer<br />

Situation aktiviert werden (Gesichtsausdruck,<br />

Gestik, Untertöne, atmosphärische<br />

Wahrnehmung). Man kann es auch als ein<br />

zeitlich organisiertes, gewissermaßen „musikalisches“<br />

Gedächtnis für die Rhythmik,<br />

die Dynamik und die Untertöne auffassen,<br />

die in der Interaktion mit anderen mitschwingen.<br />

Damit erwirbt das Kind affektiv-leibliche<br />

Schemata des Umgangs mit<br />

anderen, „schemes-of-being-with“ (Stern,<br />

1998a) oder implizite Beziehungsstile, die<br />

sein interpersonelles Verhalten organisieren<br />

und später auf andere Umgebungen<br />

übertragen werden. Sie prägen die Grundstrukturen<br />

des Beziehungsraums einer<br />

Person und erlangen damit auch zentrale<br />

Bedeutung für die Psychotherapie.<br />

Diese Forschungsergebnisse stützen die<br />

Annahme, dass es weniger die explizite<br />

Vergangenheit ist, die im Zentrum des therapeutischen<br />

Prozesses steht, sondern<br />

128 <strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 2/<strong>2013</strong>

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