Psychotherapeutenjournal 2/2013 (.pdf)
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R. Stark<br />
• Sexuelle Abstinenz: Anders als bei<br />
substanzbezogenen Süchten gehört<br />
Sexualität zum menschlichen Leben<br />
und ein Therapieziel „Nie wieder Sex“<br />
scheint nur in wenigen Ausnahmefällen<br />
praktikabel oder ethisch vertretbar. Deswegen<br />
wird die Veränderung von der<br />
Sexuellen Sucht hin zu einer Sexualität<br />
mit weniger gravierenden Nebenwirkungen<br />
für die Betroffenen als Therapieziel<br />
verfolgt. Jedoch wird in vielen<br />
Therapieprogrammen zu Beginn der<br />
Psychotherapie eine Abstinenz von jeglicher<br />
sexueller Aktivität über mindestens<br />
drei Monate empfohlen (Carnes,<br />
2001; Weiss & Schneider, 2006; Roth,<br />
2007). Ziel dieser Intervention ist es,<br />
den Suchtzyklus zu unterbrechen, der<br />
von Carnes (2001) als ein Zyklus der<br />
intensiven mentalen Beschäftigung mit<br />
Sex (preoccupation), der ritualisierten<br />
Vorbereitung der sexsüchtigen Handlung<br />
(ritualisation), des eigentlichen<br />
sexsüchtigen Verhaltens (sexual compulsivity)<br />
und der anschließenden Verzweiflung<br />
über den erneuten Kontrollverlust<br />
(despair) beschrieben wird. Aus<br />
dem oben beschriebenen Erklärungsmodell<br />
lässt sich ebenfalls die Notwendigkeit<br />
einer Abstinenzperiode ableiten,<br />
da reduzierte sexuelle Aktivität mittelfristig<br />
zu einer reduzierten sexuellen<br />
Motivation führt. Zentral ist eine Unterbrechung<br />
des sexsüchtigen Verhaltens,<br />
um weitere Assoziationen zwischen<br />
Hinweisreizen und dem Ausführen des<br />
maladaptiven Verhaltens zu verhindern.<br />
• Stimuluskontrolle: Wie in dem obigen<br />
Modell beschrieben, wird sexsüchtiges<br />
Verhalten häufig durch bestimmte Hinweisreize<br />
ausgelöst. Je nach Art der Sexuellen<br />
Sucht müssen gerade zu Beginn<br />
der Psychotherapie bestimmte Situationen<br />
und Reize vermieden werden.<br />
Für Pornographiesüchtige bedeutet<br />
das zum Beispiel, dass Pornosammlungen<br />
(Bücher, Magazine, DVDs)<br />
weggeworfen werden müssen. Falls<br />
bestimmte Orte (Diskotheken, Bars,<br />
Bordelle) mit sexsüchtigem Verhalten<br />
assoziiert sind, müssen diese Orte konsequent<br />
gemieden werden. Bei internetbezogener<br />
Sexueller Sucht geben<br />
viele Betroffene zu bedenken, ohne Internet<br />
nicht ihren alltäglichen Verpflichtungen<br />
nachkommen zu können. Hier<br />
sind kreative Lösungen gefragt: Dies<br />
kann die Nutzung des Internets ausschließlich<br />
in öffentlichen Räumen bedeuten<br />
oder die Installation von wirkungsvoller<br />
Software, die den Besuch<br />
bestimmter Internetseiten konsequent<br />
blockiert.<br />
• Schriftliche Selbstverpflichtung: Ähnlich<br />
wie bei stoffgebundenen Süchten<br />
ist für eine erfolgreiche Behandlung der<br />
Sexuellen Sucht eine ausreichende Veränderungsmotivation<br />
der Betroffenen<br />
zentral, da nur sie sicherstellt, den täglichen<br />
Verführungen zu widerstehen.<br />
Um diese zu erhöhen, schlagen Weiss<br />
und Schneider (2006) vor, Patienten zu<br />
ermutigen, eine schriftliche Selbstverpflichtung<br />
(Vertrag) einzugehen, in der<br />
sie für sich konkrete Ziele formulieren<br />
und sich zum Vermeiden von Auslösern<br />
und zum Aufbau neuer positiver, belohnender<br />
Verhaltensweisen verpflichten.<br />
• Aufbau von intimen Beziehungen:<br />
Falls Betroffene in stabilen sexuellen<br />
Beziehungen leben, werden die sexsüchtigen<br />
Verhaltensweisen in der Regel<br />
verheimlicht. Ein Ziel der Behandlung<br />
von Sexueller Sucht muss deshalb<br />
sein, die Abspaltung der in der Sexuellen<br />
Sucht gebundenen Sexualität zu<br />
überwinden und eigene sexuelle Wünsche<br />
und Bedürfnisse besser in einer<br />
Partnerschaft zu integrieren. Häufig leben<br />
jedoch die Betroffenen nicht mehr<br />
in stabilen Partnerschaften, sodass hier<br />
die Betroffenen bei der Aufnahme von<br />
neuen Partnerschaften unterstützt werden<br />
müssen.<br />
• Selbsthilfegruppen: Inzwischen gibt<br />
es in vielen größeren Städten Selbsthilfegruppen<br />
der Anonymen Sex- und Liebessüchtigen,<br />
die sich an dem<br />
12-Schritte-Programm der Anonymen<br />
Alkoholiker orientieren. Diesen Gruppen<br />
wird eine große Rolle in der Rückfallprävention<br />
zugeschrieben.<br />
• Pharmakotherapie: Zur pharmakologischen<br />
Therapie der Hypersexualität stehen<br />
vor allem Selektive-Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer<br />
(selective serotonin<br />
reuptake inhibitors, SSRI) zur<br />
Verfügung. Deren negative Wirkung auf<br />
die sexuelle Appetenz kann sich bei der<br />
Behandlung von Hypersexualität zunutze<br />
gemacht werden. Neben dem Einsatz<br />
von SSRI, die relativ wenig Nebenwirkungen<br />
haben, wird eine antiandronerge<br />
Medikation (GnRH-Agonisten,<br />
Cyproteronacetat) aufgrund der z. T.<br />
gravierenden Nebenwirkungen nur bei<br />
sehr schweren Sexuellen Süchten erwogen,<br />
bei denen eine Fremdgefährdung<br />
oder eine Suizidgefahr vorliegt.<br />
Inzwischen liegen auch einzelne ermutigende<br />
Fallberichte zum Einsatz anderer<br />
Pharmaka vor, zum Beispiel Naltrexon,<br />
einem Opioidantagonisten (Bostwick<br />
& Bucci, 2008). Einen guten Überblick<br />
über die pharmakologische Therapie<br />
von Sexueller Sucht gibt der Übersichtsartikel<br />
von Guay (2009).<br />
An der Verhaltenstherapeutischen Ambulanz<br />
der Universität Gießen wird zurzeit ein<br />
Forschungsprogramm zur Untersuchung<br />
der neurobiologischen Basis der Sexuellen<br />
Sucht durchgeführt. Darüber hinaus wird<br />
ein Behandlungsprogramm für sexsüchtige<br />
Männer mit vier Bausteinen entwickelt:<br />
• In dem Baustein Psychoedukation<br />
wird den Betroffenen ein Krankheitsmodell<br />
ähnlich dem oben beschriebenen<br />
vermittelt. Besonders wichtig hierbei<br />
ist es, die Bedeutung der Konditionierungsprozesse<br />
zu erläutern. Da die<br />
Betroffenen häufig zwischen Bagatellisieren<br />
und Dramatisieren hin und her<br />
pendeln, ist die Vermittlung rationaler<br />
Bewertungsmaßstäbe bezüglich des<br />
problematischen Verhaltens wichtig.<br />
• Im Baustein Stimuluskontrolle werden<br />
über intensive Selbstbeobachtung und<br />
Protokollierung des problematischen<br />
Verhaltens die Auslöser des sexsüchtigen<br />
Verhaltens identifiziert. Ausgehend<br />
von dem vermittelten Störungsmodell<br />
werden Strategien entwickelt, potenziellen<br />
Anreizen aus dem Weg zu gehen<br />
und insbesondere Maßnahmen zu<br />
ergreifen, die helfen, einem Handlungsimpuls<br />
zu widerstehen. Ferner wird mit<br />
den Betroffenen eine zeitlich befristete<br />
sexuelle Abstinenz verabredet.<br />
• Der Baustein Bewältigung fokussiert<br />
auf die funktionalen Aspekte des sexsüchtigen<br />
Verhaltens. Wird zum Beispiel<br />
sexsüchtiges Verhalten zur Emotionsregulation<br />
eingesetzt, können Behandlungstechniken<br />
der dialektisch-behavioralen<br />
Therapie nach Linehan (1996)<br />
<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 2/<strong>2013</strong><br />
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