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eine alte religionsgemeinschaft zwischen tradition und moderne

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[35]<br />

Irina Wießner aus dem Nachlass von<br />

Gernot Wießner<br />

Archaische Strukturen in Ostanatolien<br />

1 Organisationsprinzip<br />

In Ostanatolien leben als autochthone Gesellschaften kurdische Stämme sowie Araber<br />

muslimischer Religion, Christen syrisch-aramäischer <strong>und</strong> arabischer Sprache <strong>und</strong> Yeziden.<br />

Die Struktur all dieser Gesellschaften ist als „archaisch“ zu bezeichnen. „Archaisch“ ist<br />

weder „primitiv“ noch „unterentwickelt“. Archaische Gesellschaften sch<strong>eine</strong>n, wie Wolfram<br />

Eberhard zur gesellschaftlichen Struktur des vor<strong>moderne</strong>n China erarbeitet <strong>und</strong> mit allem<br />

Nachdruck immer wieder betont hat (Eberhard 1962), bei der Organisation des gesellschaftlichen<br />

Organismus einigen Prinzipien zu entsprechen, die folgendermaßen charakterisiert<br />

werden können:<br />

- Oberstes Prinzip für die Organisation <strong>eine</strong>r archaischen Gesellschaft ist die Annahme<br />

<strong>eine</strong>r gr<strong>und</strong>sätzlichen Ungleichheit der Menschen. Der Status <strong>eine</strong>s Menschen wird<br />

durch s<strong>eine</strong> funktionale Zuordnung zu anderen Menschen bestimmt, durch naturgegebene<br />

Unterordnung oder Überordnung. Diese hierarchische Zuordnung zu anderen<br />

Individuen kann sich infolge des – auch biologisch bedingten – Funktionswandels, dem<br />

das individuelle Menschenleben unterliegt, verschieben; das Gr<strong>und</strong>prinzip der naturhaften<br />

Ungleichheit, das als Gesetz <strong>eine</strong>r gleichzeitigen Unter- <strong>und</strong> Überordnung das<br />

Leben durchzieht, bleibt jedoch gr<strong>und</strong>sätzlich unangetastet. Unterordnung heißt auch:<br />

Ertragen <strong>und</strong> Erdulden von Macht, Überordnung: Ausüben von Macht. Es existiert immer<br />

<strong>eine</strong>r, der Macht über jemanden hat. Die wesentlichste Ungleichheit besteht in<br />

archaischen Gesellschaften <strong>zwischen</strong> Mann <strong>und</strong> Frau. Die Zelle der Familie steht in<br />

diesen Organismen unter der Befehlsgewalt des ältesten männlichen Erwachsenen. Das<br />

Prinzip der Ungleichheit bestimmt alle sozialen Beziehungen in der Familie. Die als<br />

gr<strong>und</strong>legend angesehenen Bindungen bestehen <strong>zwischen</strong> Vater <strong>und</strong> Sohn – der Sohn<br />

muss dem Vater bedingungslos gehorchen, <strong>zwischen</strong> Mann <strong>und</strong> Frau – die Frau hat<br />

k<strong>eine</strong> oder nur eingeschränkte Rechte, <strong>zwischen</strong> älterem Bruder <strong>und</strong> jüngerem Bruder –<br />

der jüngere hat den älte- [36] ren Bruder zu achten <strong>und</strong> ihm widerspruchslos zu gehorchen.<br />

Da alle archaischen Gesellschaften zudem als Großfamilien organisiert sind,<br />

gilt diese Ungleichheit in <strong>eine</strong>m höchst komplizierten System auch für das Verhältnis<br />

der Kleinfamilien untereinander, die zu <strong>eine</strong>r Großfamilie zusammengeschlossen sind.<br />

Die Frau des jüngsten Bruders ist der Frau des ältesten Bruders hinsichtlich ihres<br />

sozialen Status „ungleich“ <strong>und</strong> ihr damit auch „unterlegen“.<br />

- Archaische Gesellschaften können sich nur als überschaubare, kl<strong>eine</strong> Organismen bilden,<br />

deren Modell ebenfalls die Familie ist. Derartige Organismen sind Familien, Sippen,<br />

Stämme, aber auch überschaubare Siedlungs- <strong>und</strong> Produktionsgesellschaften, Dörfer oder<br />

Stadtviertel. Diese Organisation in Kleinformen impliziert die – fast – instinkthafte Abneigung<br />

oder Ablehnung <strong>zwischen</strong> den Gruppen. Wer <strong>eine</strong>r anderen Gruppe zugehört, ist<br />

zuerst einmal der Fremde! Der Kleingruppe übergeordnete Einheiten entstehen nur durch<br />

mehr oder weniger diffizile Ausübung von Macht der Kleingruppen unter- <strong>und</strong> gegeneinander<br />

(Dorf gegen Dorf, Stamm gegen Stamm, Familie gegen Familie), deren Ergebnis<br />

neue Machtstrukturen sind.<br />

- In archaischen Gesellschaften ist das einzelne Wesen an festgelegte Verh<strong>alte</strong>nsmuster<br />

geb<strong>und</strong>en, die als verbindliche Normen betrachtet werden. Durch die Einfügung in<br />

diese Verh<strong>alte</strong>nsmuster wird der Status des Einzelnen erkennbar, ja, er „muss“ erkenn-

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