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eine alte religionsgemeinschaft zwischen tradition und moderne

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www.yeziden-colloquium.de<br />

Mardin. Der Mongolenkhan Timur hatte mit s<strong>eine</strong>n verheerenden Feldzügen Ende des 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts die so genannten Raite, den südlichen Teil des Tur Abdin (südlich der Straße<br />

Midyat-Cizre) entvölkert <strong>und</strong> in <strong>eine</strong> Wildnis verwandelt. Die danach noch in den Dreiecken<br />

Midyat-Yayvantepe-Gülgöze bzw. Midyat-Yemişli-Yayvantepe verbliebene christliche Bevölkerung<br />

konzentrierte sich in neuen Zentralorten; in die zerstörten <strong>und</strong> aufgelassenen<br />

Siedlungen zogen Yeziden, die <strong>eine</strong> neue Heimat suchten (bekanntestes Beispiel ist Kivah).<br />

Schutz gewährten hier die umliegenden Orte der Christen, aber auch, ähnlich wie in der<br />

Provinz Siirt, die Unterordnung unter bestehende bzw. sich bildende Machtverhältnisse, was<br />

mit dem Hinweis auf das ostanatolische Aga-Wesen hinreichend verdeutlicht sein sollte. Die<br />

Yeziden kamen als schwächste Gruppe <strong>und</strong> sie blieben es. Ihr Räubertum, von dem man so<br />

schöne Geschichten zu erzählen weiß, war auch Folge dieser aussichtslosen Rolle in der<br />

Machthierarchie.<br />

Um diese ausweglose Schwäche verständlich zu machen, muss darauf hingewiesen<br />

werden, dass die Yeziden natürlich selbst auch <strong>eine</strong> archaische Gesellschaft sind. In der<br />

kastenartigen Abkapselung der religiösen Stände gegeneinander <strong>und</strong> in der damit verb<strong>und</strong>enen<br />

Endogamie, durch die Beziehung zu den hierarchisch einander zugeordneten<br />

Engelsmächten legitimiert, besitzen die Yeziden <strong>eine</strong> als <strong>und</strong>urchbrechbares Gesetz geltende<br />

Ordnung hierarchischer Machtverteilung. Die Angehörigen <strong>eine</strong>r Kaste verstehen sich<br />

jeweils als besonderer Organismus in der skizzierten Art, getrennt von den anderen<br />

Organismen <strong>und</strong> diesen gegenüber als der Macht unterworfen oder die Macht ausübend. Das<br />

Yezidentum ist vereint durch <strong>eine</strong> gemeinsame Religion – das yezidische Volk zerfällt in<br />

archaischer Art in gegeneinander weithin abgeschlossene Gruppen mit unterschiedlicher<br />

Macht. Diese archaische Zerspaltung des Volks begünstigt bis in die Gegenwart die Macht<br />

derjenigen, die als Nicht-Yeziden über Yeziden herrschen. Die [41] Zerspaltung machte<br />

durch die Geschichte hindurch Rebellionen fast unmöglich oder aussichtslos <strong>und</strong> förderte bei<br />

den Yeziden gleichzeitig <strong>eine</strong>n Gr<strong>und</strong>zug allgemein-orientalischer Lebenseinstellung. Ich<br />

m<strong>eine</strong> damit den Egoismus der Kleingruppe, der einzelnen Familien <strong>und</strong> Familienverbände.<br />

Dieser Egoismus des Überlebenwollens wiederum ist Ursache von Verh<strong>alte</strong>nsformen, die<br />

wir nur allzu leicht <strong>und</strong> leichtfertig als moralisch disqualifizierend einordnen, z. B. die Lüge<br />

oder den Opportunismus. Der jeweils Untergeordnete, der sich aus s<strong>eine</strong>r Unterordnung<br />

nicht befreien kann, kennt im Gr<strong>und</strong>e nur ein Lebensziel: das Überleben.<br />

4 Legitimation<br />

Ebenso wie die Strukturen der nicht-archaischen, bedürfen auch die der archaischen Gesellschaften<br />

der Legitimierung. Diese Funktion übernimmt in den archaischen Gesellschaften<br />

fast uneingeschränkt die Religion. So legitimiert auch in Ostanatolien jede Ethnie ihre<br />

Existenz im Konzert der lokalen Mächte religiös. Wenn hier nun von Religion die Rede ist,<br />

muss besonders hervorgehoben werden, dass damit Religion im f<strong>und</strong>amentalistischen Sinne<br />

gemeint ist. Ihre Inh<strong>alte</strong>, Dogmatik, Ritual <strong>und</strong> Ethik, werden aus nicht-menschlicher Sphäre<br />

abgeleitet <strong>und</strong> besitzen dadurch „ewige“ Gültigkeit, zeitlos wie die Gesellschaft, die sich<br />

diesem System unterwirft. Mit Nachdruck muss betont werden, dass archaische Gesellschaften<br />

das Legitimierungssystem der Religion k<strong>eine</strong>r skeptischen Reflexion unterziehen:<br />

Eine kritische Religion, deren Inh<strong>alte</strong> unter Inanspruchnahme der wahrnehmenden Vernunft<br />

auf ihre Stimmigkeit hin befragt werden, gibt es in archaischen Gesellschaften nicht. In Ostanatolien<br />

vertritt demgemäß die einzelne Ethnie <strong>eine</strong> Ideologie theoretischer Überlegenheit<br />

über jede andere. Das Christentum sieht sich dem Islam <strong>und</strong> dem Yezidentum überlegen, der<br />

Islam dem Christentum <strong>und</strong> dem Yezidentum <strong>und</strong> das Yezidentum, die Religion des Volks,<br />

das allein aus Adam hervorgegangen ist, dem Islam <strong>und</strong> dem Christentum.<br />

In der muslimischen Gesellschaft Ostanatoliens, bei Kurden, Arabern <strong>und</strong> Türken, ist<br />

ein Gr<strong>und</strong>prinzip des islamischen Religionsgesetzes weithin verinnerlicht, das – archaische<br />

– Postulat <strong>eine</strong>r Ungleichheit der Menschen, wenn man sie als Angehörige unterschiedlicher<br />

Religion betrachtet. Der Yezide steht in dieser religiösen Umwelt für die Muslime im

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