30.11.2014 Aufrufe

eine alte religionsgemeinschaft zwischen tradition und moderne

eine alte religionsgemeinschaft zwischen tradition und moderne

eine alte religionsgemeinschaft zwischen tradition und moderne

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

www.yeziden-colloquium.de<br />

4 Aushandlungsprozesse zur Neuorientierung<br />

Vieles, was hier in groben Strichen als Transformationsprozess skizziert wird, geschieht<br />

daher nicht immer freiwillig, sondern notgedrungen, nicht ausschließlich freudig, sondern<br />

manchmal widerstrebend, nicht gr<strong>und</strong>sätzlich aus <strong>eine</strong>m inneren Bedürfnis heraus, sondern<br />

gelegentlich als Reaktion auf externe Faktoren. Aber es unterstreicht noch einmal die Bedeutung<br />

<strong>eine</strong>s Verständnisses von Kultur als <strong>eine</strong>r Reihe von Aushandlungsprozessen.<br />

In welchen Bereichen spielen sich diese Aushandlungsprozesse ab? Ein zentraler Bereich<br />

ist das Verhältnis <strong>zwischen</strong> Individuum <strong>und</strong> Kollektiv. Ehemals quasi-natürliche<br />

Formen der Zugehörigkeit wie Verwandtschaft <strong>und</strong> Stammesorganisation verlieren in der<br />

Diaspora langsam aber sicher an Bedeutung. In<strong>zwischen</strong> wird beispielsweise in den Internetforen<br />

diskutiert, welche yezidischen Stämme es eigentlich gibt <strong>und</strong> zu welchen Stämmen<br />

die Mitbenutzer des Forums jeweils gehören.<br />

Aber auch innerhalb der Familie gelten <strong>tradition</strong>elle Strukturen nicht länger unhinterfragt,<br />

wenn beispielsweise die Kinder sich nicht mehr ohne [76] weiteres nach den Heiratswünschen<br />

ihrer Eltern richten wollen. War die Wahl zukünftiger Heiratspartner auf Gr<strong>und</strong> des<br />

strikten Endogamiegebotes – also dem Gebot, nur innerhalb der yezidischen Gemeinschaft zu<br />

heiraten – <strong>und</strong> der Klassenstruktur der yezidischen Gesellschaft bereits in Kurdistan erheblich<br />

eingeschränkt, so verschärft die Diasporasituation dieses Problem noch weiter.<br />

Vollends dramatisch wird es, wenn der zukünftige Heiratspartner bzw. die -partnerin kein<br />

Yezide ist <strong>und</strong> die Heirat somit gegen <strong>eine</strong> der religiösen Gr<strong>und</strong>regeln verstößt. Dann scheint<br />

die Flucht des Paares häufig der letzte Ausweg zu sein <strong>und</strong> es gibt in<strong>zwischen</strong> nicht wenige<br />

Familien, die über das Schicksal <strong>eine</strong>s ihrer Kinder völlig im Unklaren sind. In der Folge<br />

dieser Entwicklung gerät auch das strikte Endogamiegebot vermehrt in die Diskussion <strong>und</strong> es<br />

gibt Yeziden, die hier <strong>eine</strong>n enormen Handlungsbedarf sehen.<br />

Ein Nebenschauplatz dieser Debatte ist das so genannte „Brautgeld“ (Qelen). Dieser<br />

<strong>tradition</strong>ell geübte Brauch, bei dem die Familie der Frau Geld, Schmuck <strong>und</strong> andere Wertsachen<br />

von der Familie des Mannes erhält (idealerweise, um damit die Aussteuer der Braut zu<br />

bezahlen), verkommt in den Augen der Kritiker in der Diaspora immer mehr zu <strong>eine</strong>m „Kuhhandel“,<br />

bei dem teilweise enorme Summen gefordert werden. Auch zu diesem Thema ist <strong>eine</strong><br />

heftige Debatte unter Yeziden in Deutschland entbrannt.<br />

In der Diaspora gerät aber auch ein weiterer <strong>tradition</strong>eller Pfeiler des religiösen Sinnsystems<br />

ins Wanken, nämlich das Klassensystem. Die Hierarchie des Klassensystems wird<br />

zwar nicht offen in Frage gestellt, es kommt aber zu <strong>eine</strong>r schleichenden Auszehrung, d. h.<br />

Scheich <strong>und</strong> Pir genießen nicht mehr gr<strong>und</strong>sätzlich <strong>und</strong> unhinterfragt die Ehrerbietung ihrer<br />

Muriden. Sie müssen sich vielmehr an ihren Leistungen messen lassen, <strong>und</strong> mit denen<br />

sch<strong>eine</strong>n einige der ihnen Anvertrauten überhaupt nicht zufrieden zu sein, zumindest wenn<br />

man einige der diesbezüglichen Äußerungen in Internetforen verfolgt.<br />

Ganz allgemein wird ein Individuum nicht mehr ausschließlich nach s<strong>eine</strong>r Verwandtschaft<br />

<strong>und</strong> s<strong>eine</strong>m durch Geburt ererbten Status beurteilt, sondern auch nach s<strong>eine</strong>n Leistungen für<br />

die Gemeinschaft, mit denen es sich Status erwerben kann. Zudem verliert die Autorität der<br />

Kleriker zusehends an Legitimation, denn sie sind nicht mehr die alleinigen Hüter des<br />

Wissens.<br />

[77] Eine gleichberechtigte Verteilung von Wissen verringert den Bedarf an Spezialisten <strong>und</strong><br />

Autoritäten. Da in<strong>zwischen</strong> alle Yeziden lesen <strong>und</strong> schreiben können <strong>und</strong> die jüngere<br />

Generation – im Gegensatz zum größeren Teil der Scheichs <strong>und</strong> Pirs – in<strong>zwischen</strong> erstmals<br />

auf <strong>eine</strong> solide schulische Bildung zurückgreifen kann, drohen Letztere ins Hintertreffen zu<br />

geraten. Schaut man sich den Personenkreis einmal näher an, aus dem sich die Vorstände der<br />

Kulturver<strong>eine</strong>, Redakteure der Zeitschriften <strong>und</strong> Betreuer der Webseiten zusammensetzen, so<br />

wird man dort überwiegend Muriden finden, aber nur kaum <strong>eine</strong>n Scheich oder Pir.<br />

Es sind also zur Hauptsache religiöse Laien, die die Prozesse der Transformation in Gang<br />

setzen, weiterführen <strong>und</strong> in die Öffentlichkeit tragen. Sie, die <strong>tradition</strong>ellerweise auf die

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!