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Jens Peter Clausen: Historisch-kritischer Bibel-Überblick

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<strong>Jens</strong> <strong>Peter</strong> <strong>Clausen</strong>: <strong>Historisch</strong>-<strong>kritischer</strong> <strong>Bibel</strong>-Überblick 66<br />

Naherwartung Jesu bis heute nicht angebrochen ist, muß der historische Jesus mit Albert<br />

Schweitzer als irrtumsfähig gelten); andererseits glaubte Jesus aber auch, daß das künftige<br />

Gottesreich schon in die Gegenwart hineinwirke und in seiner Verkündigung und seinen<br />

Wundern erfahrbar sei (vgl. Luk. 11,20). Jesus verstand seine Wunder also als Zeichen des<br />

Gottesreiches und ausdrücklich nicht als Beglaubigungszeichen für seine eigene Person<br />

(vgl. Mark. 8,11f.). Den historischen Kern der etwa 20 überlieferten Wunder bilden Krankenheilungen,<br />

an die sich später weitere Wunderlegenden (z. B. eine Sturmstillung, drei<br />

Totenauferweckungen) anknüpften; dieser Vorgang ist in Verbindung mit einer „Renaissance<br />

des Wunderglaubens“ (G. Theißen) im 1. Jh. n. Chr. zu sehen. Die Krankenheilungen<br />

Jesu standen in Zusammenhang mit seinem von Dämonen besetzten Weltbild und hatten<br />

daher oft den Charakter von Exorzismen. Tatsächliche Erfolge sind durch Suggestionswirkung<br />

gut denkbar; daß dies nach medizinischer Erfahrung jedoch nicht immer funktioniert,<br />

bestätigt indirekt das Markusevangelium, wenn es nur von vielen Heilungen<br />

spricht und Matth. und Lukas ihre Markusvorlage hier so abwandeln, als hätte Jesus in den<br />

jeweiligen Situationen alle anwesenden Kranken geheilt, was von Markus so nicht gesagt<br />

worden war (vgl. Mark. 1,34 mit Matth. 8,16 und Luk. 4,40; Mark. 3,10 mit Matth. 4,24<br />

und Luk. 6,19).<br />

Jesus bot den Menschen mit der Gottesherrschaft das endgültige Heil an, doch wer dieses<br />

ausschlug, für den sollte die Kehrseite das Gericht sein (Matth. 25,31-46). Daß die Kirche<br />

einmal seinen eigenen Tod als die vergebungswirksame Sühnetat des Sohnes Gottes interpretieren<br />

würde, konnte der historische Jesus noch nicht wissen; seine Vergebungslehre<br />

bestand darin, daß Gott allen denjenigen gern Vergebung für ihre Sünden gewährt, die ihrerseits<br />

bereit sind, ihren Mitmenschen zu vergeben (vgl. Matth. 5,13-15; diese Auffassung<br />

entsprach der zeitgenössischen jüdischen Ethik, vgl. Sirach 28,1-5). Jesu Verhältnis zum<br />

jüdischen Gesetz läßt sich nicht unter das Schlagwort der „Toraverschärfung“ subsumieren;<br />

vielmehr wollte er den ursprünglichen Sinn der Gebote darlegen. So plädierte Jesus<br />

nicht generell für die Abschaffung der Sabbatheiligung, durchbrach aber gelegentlich Sabbatvorschriften<br />

(„Denn der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat“:<br />

Mark. 2,27; diese Auffassung auch bei Rabbinen). Auch die Liebe als Zusammenfassung<br />

des ganzen Gesetzes (Mark. 12,28-31) findet sich bereits bei jüdischen Autoren<br />

(Testamentum des Issachar 5,2; Philo von Alexandrien, De virtutibus 51 und 95, De specialibus<br />

legibus 2,63); die goldene Regel (Matth. 7,12/Luk. 6,31) findet sich bereits bei Tobias<br />

4,16 und Rabbi Hillel. Das Neue an der Ethik Jesu besteht daher, auch angesichts jüdischer<br />

Parallelen, wesentlich darin, daß bei Jesus der ethischen Forderung das Heilsangebot<br />

und das Geschenk der Vergebung vorausgeht. Doch gab Jesus, anders als die Schriftgelehrten,<br />

gelegentlich auch über die Tora hinausgehende Weisungen (Feindesliebe: Matth.<br />

5,44f., Gewaltverzicht: Matth. 5,38; statt Fürsorge für die eigene Familie ggf. Trennung<br />

von dieser: Matth. 10,35-38). Bezüglich der auf Erden Benachteiligten erwartete Jesus, daß<br />

diese bei der zukünftigen Gottesherrschaft in ihr Recht gesetzt würden (vgl. die Seligpreisungen,<br />

Matth. 5,1-12). Als Zeichen für die grenzenlose Güte Gottes pflegte Jesus selbst<br />

bewußten Umgang mit Deklassierten („Zöllner und Sünder“, Mark. 2,15-17). Die sozialintegrative<br />

Haltung des historischen Jesus hatte jedoch auch ihre (nationalistischen) Grenzen,<br />

da Jesus sich nur „zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ gesandt sah (Matth. 15,24,<br />

vgl. 10,5f.). Besitz sah Jesus als nur anvertrautes Gut, über dessen Verwendung Gott Rechenschaft<br />

verlangen kann (Gleichnis von den anvertrauten Pfunden, Luk. 19,11-27).<br />

Durch die Berufung von zwölf Jüngern wollte Jesus das Zwölfstämme-Volk Israel symbolisch<br />

neu versammeln; andererseits gab Jesus seinen Anhängern jedoch keine feste Organisation<br />

und der Gesamtbefund seiner Lehre zeigt, daß Jesus die Zugehörigkeit zu einer festen<br />

Gruppe nicht als Bedingung des Heils angesehen hat.<br />

5. Passion und Prozeß: Nach der glaubwürdigen synoptischen Chronologie wallfahrtete Jesus<br />

nach etwa einjährigem öffentlichen Wirken anläßlich eines Passafestes nach Jerusalem.

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