4 Wo hat der Sozialstaat selber Mängel?Arbeitgeber, die bestenfalls AHV/IV/ALV und EO abrechnen, jedoch wegen des kleinen Lohns oft keinePensionskassen-Beiträge. Ein Krankentaggeld müssten auch sie teuer selbst finanzieren, und Arbeitslosengelderkönnen sie kaum je beziehen.4.2.7 Wer Pflege und Betreuung braucht, muss aufs Ersparte zurückgreifen.Obwohl vom Gesetzgeber vorgesehen war, auch die Langzeitpflege über die obligatorische Krankenversicherungzu finanzieren, wurde dieses Ziel nie realisiert. Weil die Umsetzung des gesetzlichen Auftrags <strong>mit</strong>einer massiven Prämienerhöhung in der Grundversicherung verbunden gewesen wäre, beschloss das Parlament2008 eine Neuregelung der Pflegefinanzierung. Unter anderem sollte der Anteil der Krankenversicherungund der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen an den Pflegekosten eingegrenzt werden. DieUmsetzung der Restfinanzierung ist den Kantonen überlassen. Dabei kommt es einmal mehr zu uneinheitlichenund intransparenten Regelungen. Bei der konkreten Umsetzung durch die Kantone zeigt sich zudem,dass je nach Abgrenzung zwischen Pflege und Betreuung die Eigenleistungen der Pflegebedürftigenin den meisten Kantonen weiter zunehmen werden. Dies führt dazu, dass vermehrt Zusatz- und Ergänzungsleistungennotwendig werden. Weil das Risiko, im Alter pflegebedürftig zu werden, alle gleichermassenbetrifft, sollten die Pflegeleistungen auf dem Versicherungsprinzip beruhen. Eine nachhaltige undsozialverträgliche Lösung steht hier noch aus.4.2.8 Soziale Probleme werden zu oft ans Gesundheitswesen delegiert.Die Schnittstellen zwischen Sozial- und Gesundheitswesen sind nicht immer klar auszumachen. WennMenschen ohne soziales Netz erkranken, kümmern sich Hausärztinnen und Hausärzte meist um mehr alsnur körperliche Beschwerden. Akutspitäler dienen auch als Auffangbecken für Suchtkranke, Einsame,Verarmte und Verwahrloste. Gerade auch Kinder sind häufig aus sozialen Gründen hospitalisiert. In grösserenSpitälern kümmern sich Sozialdienste um die sozialen Probleme, in Kleinspitälern übernehmen ÄrztInnenund Pflegende zunehmend auch die Rolle von SozialarbeiterInnen. Die Sozialbehörden der Gemeindenund da<strong>mit</strong> die Steuerzahlenden werden dadurch entlastet – auf Kosten der Krankenkassen. Dieskönnte <strong>mit</strong> der Einführung der Spitalfinanzierung über diagnosebezogene Fallpauschalen DRG ab 2012 zueinem Problem werden.4.2.9 Es fehlt nach wie vor eine vernünftige Regelung für ein flexiblesRentenalter.Viele Menschen sind schon heute nicht bis zum offiziellen Rentenalter erwerbstätig. Freiwillig tun dies vorallem finanziell gut gestellte Männer, die von ihrer Firma eine finanzielle Überbrückung erhalten oder sichden Abschreiber bei der Alterssicherung sonst leisten können. Ein grosser Prozentsatz aber zieht sich nichtfreiwillig vorzeitig aus dem Erwerbsleben zurück. So ist insbesondere der Anteil der Männer, die vor dem65. Altersjahr IV beziehen, erheblich. Andere werden arbeitslos, müssen Arbeitslosengelder beziehen undfinden in diesem Alter kaum mehr eine Stelle. Wieder andere kämpfen <strong>mit</strong> zunehmenden gesundheitlichenProblemen, fallen <strong>mit</strong> oder ohne Krankentaggeld zeitweise aus, müssen vielleicht auf eigene Kostendas Pensum reduzieren oder verlieren den Job und gelten nicht mehr als arbeitsfähig, ohne dass eine Versicherungfür sie zahlt. Manche landen so zuletzt bei der Sozialhilfe.Es gibt auch nicht wenige, die von schwerer Arbeit völlig ausgelaugt und pensionsreif sind, bevor sie dasoffizielle Pensionsalter erreichen, und sich eine vorzeitige Pensionierung finanziell nicht leisten können.Andere möchten umgekehrt weiterarbeiten, aber es lohnt sich für sie finanziell nicht oder es bestehen imBetrieb Vorschriften, die sie zum Altersrücktritt zwingen.19
4 Wo hat der Sozialstaat selber Mängel?Hier stimmt das System der sozialen Sicherung auf mehreren Ebenen nicht: Erstens müsste es angesichtsder zunehmenden Alterung einen Anreiz geben, möglichst lange zu arbeiten, wenn man das will. Zweitensbraucht es eine Lösung für gesundheitlich Angeschlagene und Langzeitarbeitslose vor dem Rentenalter,die keinen Versicherungsschutz haben, sich aber auch den vorzeitigen Altersrücktritt finanziell nichtleisten können. Heute führt ihre finanzielle Notlage nicht selten dazu, dass sie sich die Pensionskassengelderauszahlen lassen und dann im Alter ohne genügende Absicherung dastehen.20