5 Welche <strong>Sozialpolitik</strong> braucht die Schweiz?angewiesen, auf das sie am einen oder anderen Punkt des Lebens zurückgreifen können. Ihr Anteil nimmttendenziell zu.Dieses zweite Netz soll einerseits an allen Stationen des Lebens durch soziale Sicherung materiell schützen.Aber das reicht nicht. Die Integrationskraft einer Gesellschaft hängt auch davon ab, dass sie viel früherschon und über das ganze Leben hinweg durch soziale Investition und soziale Integration guteRahmenbedingungen bietet. Als Sprungbrett in ein möglichst eigenständig bewältigtes, selbstgewähltesLeben soll die <strong>Sozialpolitik</strong> im weiteren Sinn Chancen eröffnen, Probleme vermeiden helfen, Belastungennicht nur finanziell <strong>mit</strong>tragen, sondern auch bewältigen helfen, einen Weg zurück in ein möglichst selbstbestimmtesLeben bahnen. So vielfältig die Lebenssituationen und so unterschiedlich die Menschen, soverschieden sind die benötigten Hilfestellungen. An jedem Punkt des Lebens aber geht es darum, einerseitsein Sicherheitsnetz und andererseits ein Sprungbrett anzubieten.Eine konsequente Lebenslaufperspektive zwingt zu einer langfristigen Sicht. Sie macht einerseits deutlich,wie wichtig es ist, das gute Aufwachsen von Kindern ins Zentrum zu stellen, weil dies nicht nur dieLebensumstände der Kindheit selbst verbessert, sondern auch Auswirkungen im ganzen Erwachsenenleben.Sie öffnet andererseits auch den Blick auf die Generationenfolge und die engen Beziehungen zwischenden Generationen. Beides ist wichtig für eine nachhaltige <strong>Sozialpolitik</strong>.Eine <strong>Sozialpolitik</strong>, die neben der sozialen Sicherheit auch den sozialen Chancen Aufmerksamkeit schenkt,bläht das Sozialsystem nicht auf. Gelingt es einer Gesellschaft, eine hohe Integrationskraft zu entwickelnund durch berufliche, soziale und kulturelle Integrationsangebote die Handlungschancen der Menschenzu erweitern, dann werden diese nicht nur besser leben, sondern auch seltener auf das Netz der sozialenSicherung zurückgreifen müssen. Es braucht also einen intelligenten Umbau des Sozialstaats, der diewichtigen Errungenschaften sichert, die soziale Sicherung durch eine gute Vernetzung <strong>mit</strong> anderen Politikbereichenentlastet und auf die heutigen Problemlagen antwortet.Dies bedingt zu erkennen, dass für die Verteilung von Wohlstandschancen die Mechanismen von Integrationund Ausgrenzung zentral sind. Es gilt Diskriminierung zu bekämpfen, egal ob sie sich gegen Frauen,AusländerInnen oder Behinderte richtet. Es gilt sicherzustellen, dass alle Zugang zu guter Arbeit undzum gesellschaftlichen Leben haben, dass alle kulturell und politisch partizipieren können. Der Menschund seine Lebenschancen stehen im Mittelpunkt. Doch nicht für alle liegt das Glück am gleichen Ort. Dieselbstgewählte Unterschiedlichkeit macht die gesellschaftliche Vielfalt aus.<strong>Sozialpolitik</strong> in diesem weiten Sinn kann nicht allein an den Staat delegiert werden. Sie ist unsere gemeinsameVerantwortung. Der Sozialstaat soll den Menschen in den Mittelpunkt stellen und ihm dienen. Dasist seine Form der Solidarität. Da<strong>mit</strong> wird gleichzeitig auch ein gutes Zusammenleben zum Ziel. Hier kannder Staat Rahmenbedingungen schaffen, die begünstigen, dass auch private Solidarität tragen kann. Nurso ist allgemeiner Wohlstand und sozialer Zusammenhalt zu erreichen, der für uns alle wichtig ist.Glücklicherweise ist eine solche <strong>Sozialpolitik</strong> kein Luxusprojekt, sondern auch wirtschaftlich effizient. Siemindert Kosten dadurch, dass sie von Anfang an integriert und präventiv wirkt statt nur zu reparieren.Weil sie nicht bevormundet, kommen die Motivationen und Potenziale der Menschen, ihre eigenen Lebensplänezu realisieren, stärker zum Tragen. Auch ersetzt oder verdrängt sie Hilfe in privaten und zivilgesellschaftlichenNetzen nicht. Sie geht wohlstandminderende Integrationsprobleme zusammen <strong>mit</strong> denBetroffenen an, setzt auf Aus- und Weiterbildung und verhindert Prozesse zunehmende soziale Desintegration<strong>mit</strong> entsprechender Gefährdung des sozialen Friedens und der öffentlichen Sicherheit. Sie fördertvon Beginn weg die Fähigkeiten aller Menschen. Dabei verfolgt sie eine längerfristige Perspektive undsetzt auf Nachhaltigkeit.23
5 Welche <strong>Sozialpolitik</strong> braucht die Schweiz?Auch in anderen Ländern Europas gehen die Reformbemühungen in eine ähnliche Richtung. Eine wichtigekoordinierende Rolle übernimmt dort die EU. Mit der 2000 verabschiedeten Lissabon-Strategie setzte siesich das Ziel, bei hoher Wettbewerbsfähigkeit Stellen zu schaffen und in diesem Kontext das europäischeSozialmodell zu modernisieren. Die wichtigsten Strategien sind auch da vermehrte Investitionen in dieAusbildung der Menschen und die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung. Eine erneuerte Version der Sozialagendawurde 2008 verabschiedet. Sie nennt drei grosse Ziele: 1. Chancen eröffnen (mehr und bessereArbeitsplätze, erleichterte Mobilität, dafür sorgen, dass Menschen ihr Potenzial ausschöpfen können); 2.Zugangsmöglichkeiten schaffen (hochwertige Bildung, sozialer Schutz, Gesundheitsversorgung, Dienstleistungen)und 3. Solidarität zeigen (Benachteiligten helfen, soziale Eingliederung und Integration,Partizipation und Dialog, Armut bekämpfen). Die Europäische Union hat 2010 zum «Europäischen Jahrzur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung» erklärt. Sie will da<strong>mit</strong> ihr Engagement bekräftigenfür ein Grundrecht auf ein Leben in Würde und auf eine umfassende Teilhabe an der Gesellschaft, für eineverstärkte Identifizierung der Öffentlichkeit <strong>mit</strong> Strategien zur Förderung sozialer Integration, für die Betonunggemeinsamer Verantwortung und für einen stärkeren sozialen Zusammenhalt.Wir führen im Folgenden die wichtigsten Punkte aus, die eine <strong>Sozialpolitik</strong> <strong>mit</strong> Zukunft charakterisieren.Zunächst wird die Strategie konkretisiert, im Laufe des Lebens immer sowohl ein Sicherheitsnetz zu spannenals auch ein Sprungbrett anzubieten. Im zweiten Teil geht es stärker darum, wie der Sozialstaat deman Amartya Sen angelehnten Ansatz gerecht werden kann, stets die Handlungschancen aller Menschenins Zentrum zu stellen.24