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Kernstück der im Oktober 1919 geschaffenen „produktiven<br />
Erwerbslosenfürsorge“ waren öffentliche Notstandsarbeiten,<br />
zu denen man Arbeitslose zwangsverpflichten konnte.<br />
Träger solcher Maßnahmen, die dem „Neubau des Wirtschaftslebens“<br />
dienen, volkswirtschaftlich wertvoll sein und<br />
zusätzlichen Charakter tragen mussten, waren meist die<br />
Gemeinden und Gemeindeverbände. Es ging den Behörden<br />
darum, die Arbeitswilligkeit der Antragsteller zu testen und<br />
diese im Weigerungsfall von Leistungen auszuschließen. In<br />
der Arbeitsverwaltung wie im Finanzministerium nahm man<br />
an, die Gesamtsumme der Transferleistungen würde durch<br />
das Verlangen einer Gegenleistung sinken. Schon bald stellte<br />
sich jedoch heraus, dass die Beschäftigung der Erwerbslosen<br />
nicht nur sehr viel mehr kostete als die bloße Unterstützung,<br />
sondern auch erheblich mehr, als veranschlagt worden war.<br />
Bei den sog. 1-Euro-Jobs, mit Hartz IV in deutlicher Analogie<br />
zur „produktiven Erwerbslosenfürsorge“ geschaffen, ist das<br />
heute nicht anders.<br />
Ein auch zukünftig zu befürchtendes Resultat der Kluft zwischen<br />
übertriebenen Erwartungen und harter Wirklichkeit<br />
bestand darin, dass weniger Notstandsarbeiten finanziert<br />
und dass öffentliche Aufgaben zu solchen umfunktioniert,<br />
also reguläre Stellen vernichtet bzw. Arbeitnehmer/innen,<br />
die sie sonst besetzt hätten, verdrängt wurden. Im Oktober<br />
1923 wurde zudem die „Pflichtarbeit“ eingeführt. Seither<br />
sollten die Gemeinden ihre Unterstützung möglichst von<br />
einer Arbeitsleistung der Betroffenen abhängig machen, die<br />
bis zu 24 Stunden (bei schwerer körperlicher Belastung: bis<br />
zu 16 Stunden) wöchentlich dauern durfte. In der Alltagspraxis<br />
handelte es sich dabei oft nicht um die Erledigung von<br />
„zusätzlichen“, sondern von Regelaufgaben, etwa Bau- und<br />
Reinigungsarbeiten der Gemeinden, für die sie zwangsver-<br />
pflichtete Arbeitslose einsetzten, um Lohnkosten zu sparen.<br />
Den sozialpolitischen Höhepunkt und die Krönung der Weimarer<br />
Wohlfahrtsstaatsentwicklung bildete das nach langen<br />
Debatten zwischen Reichsregierung, Gewerkschaften und<br />
Unternehmerverbänden verabschiedete Gesetz über Arbeitsvermittlung<br />
und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) vom 16.<br />
Juli 1927. Da der Winter 1928/29 hart und die Konjunktur<br />
nicht stabil war, geriet der das <strong>So</strong>zialsystem vorerst komplettierende<br />
vierte Versicherungszweig bereits kurz darauf in<br />
finanzielle Schwierigkeiten.<br />
Volkswirtschaft, Wohlfahrtsstaat und<br />
Demokratie im Niedergang<br />
Kaum ging die Periode der relativen Stabilisierung (1924<br />
bis 1928) zu Ende, schon begann mit der Diskussion über<br />
wachsende „<strong>So</strong>ziallasten“ ein argumentativer Sturmlauf<br />
gegen den Wohlfahrtsstaat. Hauptträger dieser Angriffe<br />
waren Großindustrielle des Ruhrgebiets, die hofften, das<br />
Katastrophe Kapitalismus<br />
Wieder Weimar<br />
Versicherungs- durch das Fürsorgeprinzip ersetzen, sich einer<br />
paritätischen Finanzierung des <strong>So</strong>zialsystems entziehen<br />
und ihre Gewinne auf diese Weise steigern zu können. Ein<br />
intellektueller Wortführer der Bewegung zur Zerschlagung<br />
des Weimarer <strong>So</strong>zialsystems hieß - man höre und staune<br />
- Gustav Hartz. Den im Unternehmerlager favorisierten<br />
Privatisierungsplänen entsprechend, schlug dieser deutschnationale<br />
Kritiker in seinem Buch „Irrwege der deutschen<br />
<strong>So</strong>zialpolitik und der Weg zur sozialen Freiheit“ schon 1928<br />
vor, die <strong>So</strong>zialversicherung à la Bismarck durch persönliches<br />
Zwangssparen zu ersetzen.<br />
Über bis zur eher kuriosen Namensgleichheit von Hauptakteuren<br />
reichenden Gemeinsamkeiten dürfen die gravierenden<br />
Unterschiede zwischen Gegenwart und Vergangenheit<br />
aber nicht übersehen werden. Die soziale Lage der auf<br />
dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise über 6 Mio. offiziell<br />
registrierten Erwerbslosen war viel dramatischer als die der<br />
Betroffenen heute. Sie und ihre Familien lebten unter Elendsbedingungen.<br />
Zudem war die Arbeitslosenquote mehr als<br />
doppelt so hoch wie in der Gegenwart und auch die Weltmarktdynamik<br />
längst nicht so ausgeprägt.<br />
Während der Weltwirtschaftskrise 1929/33 zerbrach nicht<br />
nur der gesellschaftspolitische Basiskonsens zwischen den<br />
Klassen bzw. deren organisierter Interessenrepräsentanz,<br />
Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, sondern im<br />
März 1930 auch die Große Koalition, deren beide Flügelparteien<br />
keine Einigung über den Weg zur finanziellen<br />
Konsolidierung der Arbeitslosenversicherung erzielten.<br />
Die unternehmernahe DVP bestand auf einer Kürzung von<br />
Leistungen, wohingegen die SPD-Fraktion im Unterschied zu<br />
ihrem Reichskanzler Hermann Müller und seinen Minister-