e-xilant öffentlich versteckt - brut Wien
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Mit Kuss und Gruß … und Nachdenklichkeit<br />
Kritik von Victoria Schopf, 12.04.11<br />
Die bohrendste Frage des Abends war wohl jene, wie viel<br />
Labello während der Probenzeit zu Romantic Afternoon verwendet<br />
wurde. Nun gut, vielleicht nicht die bohrendste, aber<br />
auf jeden Fall eine davon, denn nach einer Stunde Lippenkontakt<br />
ohne Unterbrechung waren nicht nur die Münder der<br />
Performer, sondern auch ein wenig die Nerven der Zuschauer<br />
wund geküsst. Nichtsdestotrotz ging die Performance nahe,<br />
sie sprach unsere voyeuristische Neugierde an und zog in<br />
ihren Bann, selbst wenn die vermutliche Aussage auch in zehn<br />
Minuten hätte vermittelt werden können.<br />
Sechs erwachsene Menschen, drei Männer und drei Frauen,<br />
die eine Stunde lang nichts anderes tun, als sich zu küssen.<br />
In allen möglichen Kombinationen, den wildesten Posen, mit<br />
mehr oder weniger Zärtlichkeit, authentisch, vor Aufregung<br />
mit geschlossenen Augen blinzelnd oder streng durchchoreografiert.<br />
In diesen 60 Minuten ist alles dabei. Von der anfänglichen<br />
schüchternen Befangenheit, sowohl die echte aufseiten<br />
des Publikums, als auch die gespielte aufseiten der Performer,<br />
wechselt man schnell zum Rausch des Kusses selbst über, die<br />
zwischenmenschlichen Interaktionen werden von der Vertikale<br />
in die Horizontale verlegt, und schon bald rollen mal Dreier-,<br />
mal Zweiergespanne auf dem Boden und küssen, als gäbe es<br />
kein Morgen. Anfangs zuerst ganz leise, geradezu beschämt,<br />
tippen sie einander auf die Schulter, um den jeweiligen Lippenakrobat<br />
abzulösen, doch immer eher wird auch die besitzergreifende<br />
Seite des Kusses selbst und dessen, der selbigen ausführt,<br />
deutlich, nicht nur wenn sich die Paare gegenseitig mit<br />
einer solchen Wucht gegen die schwarze Holzwand werfen,<br />
dass einen schon selbst die einzelnen Wirbel schmerzen. Die<br />
Performance der unermüdlichen Tänzer, welche sich trotz allzeitlicher<br />
Kussbeschäftigung auch immer im Raum fortbewegen,<br />
was vor allem ihn der Horizontalen etwas beschwerlich<br />
wird, wirkt immer anstrengender. Bis sich schließlich alle sechs<br />
zwischenzeitlich auch in einem großen Kussgelage wiederfinden,<br />
welches ein wenig an das Bild Grenouilles erinnert, der in<br />
Patrick Süskinds Roman Das Parfum von den Menschen aufgrund<br />
seines Duftes aufgefressen wird. Doch hier herrschen<br />
sehr egalitäre Kussverhältnisse: jeder mit jedem, gleichzeitig,<br />
nacheinander oder überhaupt alle zugleich, wobei alle küssbaren<br />
Körperteile zum Einsatz kommen.<br />
Das einzige Ermüdende daran ist vor allem die unendliche Stille,<br />
welche die gesamte Performance begleitet. Kein gesprochenes<br />
Wort, nur zwei kurze Musikeinspielungen und die immerwährenden<br />
Nebengeräusche küssender Menschen erreichen<br />
die leicht unterforderten Ohren des Publikums. Dafür werden<br />
die Augen durchgehend mit neuen Eindrücken versorgt, auch<br />
wenn man sich manchmal etwas mehr erwartet, wenn sich<br />
zwei der küssenden Parteien auf einmal ihrer Hosen zu entledigen<br />
beginnen. Schlussendlich werden Kleidungsstücke aber<br />
nur getauscht und so schnell wie möglich wieder angezogen.<br />
Nur die einmal ausgezogenen Schuhe bleiben bis zum Ende<br />
der Aufführung fein säuberlich in Reih und Glied aufgestellt<br />
am Rande der Bühne stehen. Vielleicht um uns zu erinnern,<br />
dass auch wir immer alles in Reihen und Spalten ordnen,<br />
selbst wenn wir dies nicht einmal intendieren.<br />
Neben der Frage, ob man nun selbst auch so aussieht, wenn<br />
man sich küsst (auch wenn die wenigstens währenddessen<br />
auch ernsthaft schon einen Rückwärtspurzelbaum gemacht<br />
haben), stellt sich vor allem auch jene, was am Kuss selbst so<br />
interessant ist. Natürlich ist da die voyeuristische Lust, aber<br />
dazu kommt auch noch das verzweifelte Suchen nach Halt,<br />
meist an jemandem, ob männlich oder weiblich (emanzipiert<br />
und tolerant sind wir doch alle), welches in fast jedem von uns<br />
tief verankert ist. Auch das greift die Performance auf, wenn<br />
die endlich kurz pausierenden Tänzer nach Minuten ohne<br />
sichtbares Luftholen während ihrer Kussmarathons selbst in<br />
den wenigen Sekunden, in welchen sie keinen zweiten in ihren<br />
Armen halten und trotzdem benebelt vom Kussrausch sind, in<br />
die leere Luft küssen, um nicht allein auf der kalten, schwarzen<br />
Bühne stehen zu müssen. Fast so wie wir, die wir doch immer<br />
auch ein wenig fürchten, allein auf der kalten, schwarzen<br />
Weltbühne unser Leben fristen zu müssen. Deshalb lieber<br />
jemanden küssen, denn da fühlt man sich doch gleich weniger<br />
allein und ein wenig mehr geliebt.<br />
Wobei Liebe in Küssen nicht inkludiert sein muss, genauso<br />
wenig wie gesprochene Worte in einer Sprache oder aber auch<br />
eine tiefsinnige Aussage in einer Performance. Nach 60 Minuten<br />
des Küssens gehen die sechs Künstler kurz zu einer Tanzperformance<br />
über, bevor sie sich, nach getaner Arbeit, brav<br />
verbeugen, vielleicht ein wenig schelmisch grinsend, und ihre<br />
Zuschauer wieder sich selbst und ihren unterschiedlichsten Interpretationen<br />
des Gesehenen überlassen. Natürlich sieht man<br />
Tag für Tag sich küssende Menschen in der Öffentlichkeit, es<br />
ist schon fast zu einer alltäglichen Erscheinung geworden, und<br />
trotzdem fühlt man sich nachher ein wenig, als hätte man zu<br />
viel gesehen. Zu viel als eigentlich erlaubt. Und trotz der rauen<br />
Lippen, welche man schon allein beim Zusehen bekam, oft<br />
auch eher des Gefühls eines zwischenmenschlichen Distanzbedürfnisses<br />
und der kurzzeitigen Konfusion den Inhalt sowie<br />
auch dessen Rezeption betreffend fiel das fast urtümlichste<br />
Ritual unserer Gesellschaft auch bei der Verabschiedung der<br />
einzelnen Zuschauer untereinander nicht aus. Raten sie einmal,<br />
was sie zum Abschied taten. Richtig, sich küssen.<br />
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