e-xilant öffentlich versteckt - brut Wien
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Auf der anderen Seite<br />
Die Macht des Publikums im Kusstaumel<br />
Kritik von Theresa Naomi Hund, 13.04.2011<br />
Die Küssenden Die Beobachtenden<br />
6 Künstler (3 Frauen, 3 Männer) küssen<br />
sich 60 Minuten lang, im<br />
Wechsel, in Zweierpaarungen, zu dritt oder auch<br />
allein. Ja, doch der Kuss allein ist tatsächlich<br />
möglich, pantomimengleich wird er<br />
vollzogen, der imaginäre Partner dient als<br />
Projektionsfläche. Sie küssen sich überwiegend<br />
mit geschlossenen Augen, es ist die reine<br />
Form des Kusses, ohne Speichelflüssigkeiten<br />
miteinander auszutauschen. Eine Kusschoreografie<br />
ist es, welche wir hier zu sehen bekommen.<br />
Geschlechtsauflösungen, Konventionsbrüche,<br />
aber schockieren tut das längst nicht mehr. Viele<br />
Schritte werden routiniert ausgeübt, manche<br />
wiederum sind improvisiert. Der ganze Bühnenraum<br />
wird durch und mit dem Küssen eingenommen, im<br />
Stehen, im Sitzen, im Liegen – jede Form der Kussakrobatik<br />
wird uns hier geboten. Zweierkonstellationen lösen sich<br />
immer wieder auf und werden neu formiert.<br />
Münder, Beine, Hände, Schultern,<br />
Knie, Waden, fast alle Gliedmaßen<br />
werden mit einem Kuss versehen. Es<br />
wird sich durch die Haare gefahren, das<br />
Gesicht mit Händen gestreichelt, ein Hauch von Zärtlichkeit<br />
kommt auf, jedoch wird diese wieder durch die<br />
routinierten, ja fast maschinellen Bewegungsabläufe<br />
unterbrochen. Viele Formen des Kusses werden<br />
ausprobiert, dominant, gefühlvoll, exzessiv. Es<br />
fällt auf, dass manche Kusspaarungen dabei besser<br />
harmonieren als andere. Gibt es verborgene<br />
Kusspräferenzen? Gibt es eine<br />
Kusshierarchie?<br />
Empfinden die Küssenden überhaupt noch etwas<br />
oder wird der Kuss zur Routine? Wenn ja, wie<br />
schade. Küssende Schlafwandler, die suchen, sich<br />
verlieren, einander spüren, sich dem anderen<br />
wieder entziehen, weil sie eben nicht finden.<br />
Sich (nicht) finden?<br />
Gebannte, gespannte, neugierige<br />
Blicke. Die ersten beginnen zu schmunzeln, zu flüstern, sich zu<br />
räuspern. Einige ziehen sich ihre Jacken aus,<br />
Handyspiele, manche lesen<br />
im Programmheft. Was ist hier los, was geschieht hier<br />
auf der heute deutlich spürbaren anderen Seite des<br />
Raumes?Unruhe, Unwohlsein, Unsinn? Was genau<br />
sehe ich denn da? Es ist zwar<br />
etwas scheinbar Intimes, aber eben<br />
nichts sexuelles, die Intimität wird durch die Blicke, die Nervosität<br />
des Zuschauers gar nicht zugelassen.<br />
Es ist kein romantischer Nachmittag,<br />
sondern ein mechanischer Abend. Der Blick vieler geht<br />
lieber in die Publikumsrunde, als auf das<br />
Spektakel auf der Bühne. Es liegt etwas in der Luft.<br />
Aggressivität, Genervtheit, Langeweile, Ratlosigkeit. Es<br />
kommt zu einem Rollenwechsel.<br />
Das Publikum ist heute der<br />
eigentliche Protagonist des<br />
Kusstaumels. Von uns<br />
aus wird das Stück regiert.<br />
Immer mal wieder kurze Blicke der Küssenden<br />
auf die andere Seite. Bekommen sie<br />
mit, was hier gerade passiert? Einige setzen<br />
eine persönliche Botschaft, indem sie den Raum verlassen.<br />
Fragende, aber auch verständliche Blicke. Ist<br />
es die Langeweile, die Ideenlosigkeit? Das <strong>öffentlich</strong>e<br />
Küssen schockiert nicht mehr, täglich sehen wir<br />
dort wie auch hier wird es inszeniert. Die Sehnsucht<br />
nach dem Ende wegen der Gewohnheit des Blickes? Es wird<br />
sich nicht auf das Geschehen eingelassen, dadurch kann es<br />
sich nicht entfalten.<br />
Der Kuss hatte von Anbeginn keine Chance. Zumindest heute.<br />
Selten habe ich die Rampe zwischen<br />
Publikum und Bühne so<br />
intensiv empfunden wie heute. Die triadische Kollusion ist<br />
gescheitert. Wir haben ein Kussspiel auf der einen<br />
und Spielverderber auf der anderen Seite.<br />
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