denk-mal »Du kannst dich zurückhalten von den Leiden der Welt, <strong>das</strong> ist dir freigestellt und entspricht de<strong>in</strong>er Natur, aber vielleicht ist gerade dieses Zurückhalten <strong>das</strong> e<strong>in</strong>zige Leid, <strong>das</strong> du vermeiden könntest.« Franz Kafka naturscheck w<strong>in</strong>ter 2010 75 Editorial
Kunst & Kultur »Nokan« Die Kunst des Ausklangs E<strong>in</strong> Diskurs über den Tod im allgeme<strong>in</strong>en oder, schlimmer noch, die Reflexion über die eigene Vergänglichkeit, kann sich bisweilen als komplizierte bis deprimierende Angelegenheit entpuppen, denn <strong>wie</strong> jedes Geschehen, <strong>das</strong> man irgend<strong>wie</strong> beleuchten und verstehen möchte, bedarf es auch beim Forschung<strong>so</strong>bjekt Tod wenigstens e<strong>in</strong>er eigenen Erfahrung. Doch woher Erfahrung nehmen, wenn nicht gleich sterben!? Ironie des Schicksals: als Mensch macht man eben nur e<strong>in</strong>mal Bekanntschaft mit dem Tod, und meist ist nach diesem tiefgreifendsten aller Erlebnisse die Möglichkeit der konventionellen Berichterstattung oder des Gedankenaustausches nicht vorhanden. Nimmt der Mensch jenes kostbare Geheimnis h<strong>in</strong>ter der Schreckensmaske der Vergänglichkeit al<strong>so</strong> zwangsläu- 76 naturscheck w<strong>in</strong>ter 2010 fig mit sich? Oder kann man doch schon zu Lebzeiten etwas über die »Terra <strong>in</strong>cognita« <strong>in</strong> Erfahrung br<strong>in</strong>gen? E<strong>in</strong> kühner Blick <strong>in</strong> <strong>das</strong> Wechselspiel der Formen genügt, um zu erkennen, was uns Leben und Tod seit Anbeg<strong>in</strong>n der Zeit entgegenflüstern: Du bist jenseits dieses Formenwandels, jenseits der Ummantelung – erkenne de<strong>in</strong> wahres Wesen! Kette dich nicht an die Welt des Wandels, <strong>so</strong>ndern betrachte <strong>das</strong> Werden und Vergehen lediglich als Grundmomente der irdischen Existenz, die dem nach Bewußtse<strong>in</strong> strebenden Geist nur als farbenfroh pulsierendes Lehrstück dienen <strong>so</strong>ll! Genau betrachtet, ist nämlich jeder Tag geprägt durch Kreisläufe, denen Anfang und Ende <strong>in</strong>newohnen; der Tod ist dem profunden Blick mitnichten e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>maliges Phänomen, <strong>das</strong> se<strong>in</strong> Geheimnis des- potisch verwahrt, <strong>so</strong>ndern er geschieht ununterbrochen <strong>in</strong> und um uns herum, hilft uns <strong>das</strong> Leben verstehen, wenn … wir aufrichtig zu fragen wagen und die uns gegebene Zeit auf Erden mutig <strong>in</strong> diese Endlichkeit spannen. Wer die Zeit zwischen Geburt und Tod als kurze Teiletappe e<strong>in</strong>es weit umfassenderen Se<strong>in</strong>s begreifen lernt, überw<strong>in</strong>det die ihn heute durch <strong>das</strong> materielle Denken bedrückenden Limitationen … »und <strong>so</strong>lang du <strong>das</strong> nicht hast, dieses: Stirb und werde! bist du nur e<strong>in</strong> trüber Gast auf der dunklen Erde«. (Goethe) Vielleicht kam Regisseur Yojiro Takita die Idee zu se<strong>in</strong>em 2009 ausgestrahlten und <strong>in</strong> Folge mit dem Auslands- Oscar prämierten Film Nokan, als er, <strong>wie</strong> Millionen anderer Japaner, an e<strong>in</strong>em der unzähligen Bahnhöfe des Landes auf den Zug wartete und tief versunken im zeitrafferartigen Kommen und Gehen der Reisenden plötzlich e<strong>in</strong>e vielversprechende Analogie entdeckte: Hier nimmt der Zug Menschen mit, trennt sie für e<strong>in</strong> neues Ziel, und dort führt er sie nach langer Reise <strong>wie</strong>der zusammen. Ankunft, Abfahrt und <strong>wie</strong>der Ankunft! Der Bahnhof als Metapher für die Gezeiten des Lebens verdeutlicht schnell, daß nur e<strong>in</strong>es im steten Wandel dieser Durchgangsstation von Dauer ist: die Begegnungen am Bahngleis! Darum: Wohl dem, der auf se<strong>in</strong>en Reisen von Menschen begleitet wird, die ihn aufrichtig lieben, denn ohne diese Begegnungen wäre jener Transitraum, sprich die irdische Wirkstätte, nichts weiter als e<strong>in</strong> karges Niemandsland! Ganz gleich, <strong>wie</strong> dem Filmemacher der maßgebliche Impuls für se<strong>in</strong>en Streifen zuteil wurde, letztlich gelang ihm der Kunstgriff, <strong>das</strong> aus e<strong>in</strong>em lichten Moment geborene Gleichnis über Werden und Vergehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e wundervolle Geschichte zu übersetzen, die im Falle von »Nokan« aus der Warte e<strong>in</strong>es sensiblen Leichenbestatters erzählt wird. Um zu wissen, was der Regisseur damit <strong>in</strong> Angriff nahm, muß man vorausschicken, daß im Land der aufgehenden Sonne <strong>das</strong> Sterben e<strong>in</strong> ab<strong>so</strong>lutes Tabuthema ist. Selbst Berufsgruppen, die <strong>in</strong> ihrer Arbeit den Tod nur leicht tangieren, gelten als unglückbr<strong>in</strong>gendeAußenseiter, und um <strong>so</strong> mehr die Kaste der Bestatter. Doch obwohl der Tätigkeit dieser »Zeremonienmeister des Ausklangs«,