10/2015 – 01/2016
Fritz + Fränzi
Fritz + Fränzi
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Kolumne<br />
Morgenstund<br />
ist ungesund<br />
Mikael Krogerus<br />
ist Autor und Journalist.<br />
Der Finne ist Vater einer<br />
Tochter und eines Sohnes, lebt<br />
in Biel und schreibt regelmässig<br />
für das Schweizer ElternMagazin<br />
Fritz+Fränzi und andere<br />
Schweizer Medien.<br />
Von den vielen Dingen, die mich an der Schule stören, ist das<br />
schlimmste, dass sie so früh morgens beginnt. Algebra, Relativpronomen,<br />
Subjonctif <strong>–</strong> das ist alles schwierig, aber mit etwas<br />
Übung kann man es meistern. Frühe Schulzeiten hingegen<br />
sind zermürbender als jeder Stellungskrieg. Man muss ja nicht<br />
mal eigene Schulkinder haben, um das zu verstehen, man muss sich bloss erinnern:<br />
Gab es als Kind oder Jugendlicher etwas Schlimmeres als das Klingeln<br />
des Weckers unter der Woche? Draussen tiefe Dunkelheit, im Herzen und<br />
im Kopfe auch. Bei mir fing die Schule um 7 Uhr 40 an. Das war schon unerbittlich<br />
früh. Die Schule meiner Kinder beginnt um 7 Uhr 25 beziehungsweise<br />
7 Uhr 35. In 30 Jahren hat sich die Schule um rund fünfzehn Minuten zurückentwickelt.<br />
Alles wird benutzerfreundlicher <strong>–</strong> ausser die Schule!<br />
Dabei haben Psychologen, Pädagogen und Politiker jeden Bereich des Schullebens<br />
restrukturiert, reformiert, optimiert in der Hoffnung, das Lernen<br />
stressfreier und sinnvoller zu gestalten. Lehrpläne wurden entrümpelt, Fächer<br />
zusammengelegt oder gleich ganz abgeschafft (hallo, Altgriechisch!). Man hat<br />
über bewegte Schulen, Projektunterricht, ja sogar über Generationen-Klassenzimmer<br />
nachgedacht, aber praktisch nie über einen späteren Unterrichtsbeginn.<br />
Den Schweizer Bildungsdelegationen, die sich im PISA-Rausch finnischen<br />
Unterricht anschauten, ist offensichtlich nicht aufgefallen, dass finnische<br />
Schulen sich vor allem in einem Punkt von schweizerischen unterscheiden: in<br />
der Anfangszeit des Unterrichts. In Finnland geht vor 8 Uhr 30 oder sogar 9 Uhr<br />
fast nichts. Natürlich können die Schüler früher kommen, sie machen dann<br />
Hausaufgaben oder langweilen sich, bis die Schule beginnt.<br />
Interessanterweise gibt es fast niemanden, der in diesem Punkt anderer<br />
Meinung wäre. Kein Kind freut sich, früh in die Schule zu kommen. Kein<br />
Elternteil erlebt eine tiefe Befriedigung, wenn er im Stockdunkeln Kinder aus<br />
dem Bett reisst. Keinen Lehrer motiviert der Anblick gähnender Schüler. Pro<br />
Jahr erscheinen unzählige Studien, die alle ungefähr das beweisen, was die<br />
Erfahrung ohnehin lehrt: Wer länger schläft, ist besser dran. Einige Hirnund<br />
Schlafforscher plädieren sogar dafür, erst um <strong>10</strong> Uhr mit dem Unterricht zu<br />
beginnen. Die Argumente der Gegenseite sind so schwach, dass man sie fast<br />
nicht aufzählen mag: Es war schon immer so. Wer früh anfängt, ist früh fertig.<br />
Morgenstund hat Gold im Mund. Und dann ist da das Nullargument aller<br />
zwinglianischen Kulturkreise: Schule ist Teil der Gesellschaft, deshalb muss sich<br />
der Unterrichtsbeginn der Arbeitszeit der Eltern anpassen. Damit nähern wir<br />
uns dem Kern des Problems: Vielleicht fängt ja nicht nur die Schule, sondern<br />
unser ganzes Leben zu früh an. Mir jedenfalls fällt kein einziger Mensch ein,<br />
dem nicht eine Stunde länger Schlaf unendlich guttun würde.<br />
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren<br />
60 Dezember <strong>2<strong>01</strong>5</strong> / Januar 2<strong>01</strong>6 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi