2013-04
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Gesellschaft<br />
VOM GROSSEN IM KLEINEN<br />
Mit einer einfachen Geschichte möchte ich beginnen:<br />
Vor wenigen Jahren hatten wir Besuch einer<br />
japanischen Künstlerin 1 aus den USA. Wir<br />
machten gemeinsam einen Spaziergang durch den nahegelegenen<br />
Wald. Die Dame trug einen Fotoapparat mit sich.<br />
Wir zeigten ihr die schönsten Sehenswürdigkeiten von Siegen<br />
aus der Fernsicht, natürlich auch in Erwartung, dass die<br />
junge Frau diese fotografieren würde. Aber ihr Fotoapparat<br />
blieb in der Tasche. So gingen wir etwas enttäuscht weiter.<br />
Plötzlich blieb sie stehen, holte ihre Kamera, richtete sie auf<br />
ein paar Grashalme, ein paar unscheinbare Steine, Zweige<br />
und nahm sie auf. Ähnliches geschah noch öfter. Mit großer<br />
Geduld mühte sie sich, die Objekte richtig in einem Bild<br />
zu gestalten. Es waren lauter völlig unbedeutende Dinge,<br />
die es scheinbar nicht wert waren, festgehalten zu werden.<br />
Später sah ich die Ergebnisse im Computer: fantastische<br />
Aufnahmen leuchteten mir entgegen von einer Schönheit,<br />
welche ich vorher nie geahnt hätte.<br />
Daraus habe ich gelernt: Oft sind die einfachen Dinge, die<br />
wir in der Regel nicht beachten, von besonderer Schönheit<br />
und Bedeutung. Dieses Beispiel sollte man nicht nur auf die<br />
Erscheinungen in der Natur beschränken. Man kann diese<br />
Feststellung auf alles in unserem täglichen Leben übertragen.Aber<br />
wie kann ich die Tür zu dieser Erkenntnis öffnen?<br />
Wir haben immer mehr gelernt, die Dinge und auch<br />
den Menschen nach ihrem Gebrauchswert für uns zu betrachten.<br />
Das ist nützlich, aber vergessen wir nicht dabei,<br />
dass wir mit dieser einseitigen Denkweise die Wesensfülle<br />
unseres Gegenüber mit all ihrem Wertvollen nicht in den<br />
Blick bekommen. Diese bleibt verborgen. Was aber sind die<br />
Schlüssel, uns diese Geheimnisse zu offenbaren?<br />
Ein Satz in Anlehnung an Augustinus von Hippo (354 –<br />
430) zeigt uns eine Möglichkeit auf: „...Die Ehrfurcht... ist der<br />
Kern der Liebe.“ 2 Die Erfahrung zeigt: Wenn wir allen Geschöpfen<br />
in dieser Welt mit der Bereitschaft der Hochachtung<br />
ohne Eigennutz gegenübertreten, werden sie sich allmählich<br />
mit der Zeit öffnen, uns vertrauend ihr Wesen zeigen. Immer<br />
mehr beginnen wir dann zu staunen, zu bewundern. Damit ist<br />
der Pfad der Wertschätzung und danach auch der Liebe für<br />
uns geebnet. Unsere Umgebung ist eine andere geworden, und<br />
in uns steigt das Gefühl der Dankbarkeit gegenüber unserem<br />
Schöpfer auf, der uns beschenkt und beglückt. Otto Abt<br />
1<br />
Nami Yamamoto 2 Aus einem Zitat auf dem Tabernakel der Klosterkirche Marienthal<br />
bei Wesel.<br />
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4/<strong>2013</strong> durchblick 35