2013-04
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Verlorene Heimat<br />
Als neugieriges Kind begann ich schon früh, meine<br />
Umgebung zu erkunden,<br />
erst den Garten, dann auch bald den Hof des Gestüts auf<br />
der anderen Straßenseite. Einmal schien eine Gänseschar auf<br />
mich gewartet zu haben. Flügelschlagend und laut kreischend<br />
trieben sie mich auf eine Schafwiese. Der Schäfer erbarmte<br />
sich meiner und brachte mich nach Hause, wo schon alles<br />
in heller Aufregung war. Schräg gegenüber befand sich ein<br />
Bauernhof. Dort wollte man mir zeigen, wie die Kühe gemolken<br />
werden, aber das war nichts für mich. Hinter dem Garten<br />
verlief die Bahnlinie Waldenburg – Freiburg. Im Bahnwärterhaus<br />
wohnte die Familie Vogt. Der machte ich auch hin<br />
und wieder meine „Aufwartung“. Neben dem Gasthof stand<br />
das Haus der Familie Philipp, das von einem wunderschönen<br />
Garten umgeben war. Die „alte Philippen“ soll das zweite<br />
Gesicht gehabt haben und konnte die Zukunft voraussehen.<br />
Opa Karl hatte<br />
sich eines Tages<br />
beim Holzhacken<br />
das Bein verletzt<br />
und sie hatte<br />
durch Handauflegen<br />
die Blutung<br />
gestillt und es damit<br />
gerettet. Auch<br />
ihren eigenen Tod<br />
soll sie detailliert<br />
vorausgesagt haben.<br />
Mein Vater<br />
erzählte mir, dass<br />
es genauso eingetroffen<br />
sei.<br />
Ich war meistens<br />
bei meiner<br />
Oma Karussell im Garten meiner Großeltern<br />
und<br />
der kleinen Grete, die eigentlich Helene hieß. Helene wurde<br />
zu Grete, weil meine Tante bereits Helene hieß und zwei<br />
Helenen gingen im Gasthof gar nicht. In der Küche hatte<br />
ich ein breites Fensterbrett für mich, auf dem meine Spielsachen<br />
Platz fanden. Wenn mein Cousin zu Besuch kam,<br />
wurde er zurechtgewiesen: „Nee, Gerd, doas geheert der<br />
Gittel, gell!“– wenn er sich an meinen Sachen vergreifen<br />
wollte. Oft sagte meine Oma zu mir: „Kumm ock Gittala,<br />
mir macha ins woas gutt’s!“ Und dann machte sie Klöße.<br />
Ich durfte in der Küche „helfen“ und die Tassen und Teller<br />
einräumen. Auch meinem Opa war ich behilflich. Wenn er<br />
Holz im Garten aufstapelte, reichte ich ihm die „Scheitel“<br />
an.<br />
Einmal hatte mich meine Mutter ins Bett gestopft, weil<br />
ich Mittagsschlaf halten sollte. Ich war aber gar nicht müde<br />
und langweilte mich. Da sah ich ein Tischchen, auf dem<br />
eine Torte und eine „Abgerührte“ (Sandkuchen) standen<br />
und Zigaretten lagen. Ich kletterte aus dem Bett und bohrte<br />
mit dem Zeigefinger Löcher in Torte und Kuchen. Die Zigaretten<br />
zerlegte ich in ihre Einzelteile. Sie waren für meinen<br />
Vater bestimmt, der sich auf Heimaturlaub befand. Mutter<br />
wird ihre helle Freude gehabt haben, die Folgen für mich<br />
habe ich wohl verdrängt.<br />
An das letzte Weihnachtsfest in Liebichau erinnert mich<br />
ein großer mit roten Kugeln und Schleifen prachtvoll geschmückter<br />
Tannenbaum im Gastraum. Um diesen Weihnachtsbaum<br />
saßen viele Menschen aus dem Dorf. Ob es in<br />
dieser Kriegsweihnacht Geschenke gab, weiß ich nicht mehr.<br />
Die Winter waren kalt und es lag immer viel Schnee.<br />
Opa Karl besorgte sich öfter mal ein Pferd mit Schlitten und<br />
kutschierte mich und andere Kinder durch die Landschaft.<br />
Wir wurden in Decken und Felle eingepackt, so dass wir<br />
nicht froren.<br />
Im Mai 1943 wurde mein Bruder Karlheinz geboren.<br />
Mutter blieb jetzt öfter in Weißstein bei ihren Eltern und<br />
meinem Bruder. Das störte mich nicht, denn ich hatte ja<br />
meine Oma Emma und die kleine Grete. Einmal nahm mich<br />
Mutter mit zu ihrer Oma, meiner Uroma Auguste, die auch<br />
in der Nähe wohnte. Ich habe sie zweimal in meinem Leben<br />
gesehen und ich mochte sie. Was in den Kriegswirren aus<br />
ihr geworden ist, weiß ich nicht, was ich sehr bedaure.<br />
So langsam erreichten die Auswirkungen des Krieges<br />
auch das friedliche Liebichau. Im Garten quartierte sich<br />
eine Kompanie russischer Soldaten ein. Sie hatten einen eigenen<br />
Koch, der auf einer Feuerstelle aus Ziegelsteinen das<br />
Essen für die Soldaten zubereitete. Sie taten uns nichts und<br />
waren höflich. Da ich wie immer sehr neugierig war, schaute<br />
ich dem Koch beim Arbeiten zu. Er war freundlich und<br />
wir mochten uns. Das brachte meine Oma und die kleine<br />
Grete auf die Idee, mich mit einem Kochtopf auszustatten,<br />
um Essen zu holen. Ich bekam immer etwas. Die Lebensmittel<br />
waren für uns ja schon etwas knapp geworden.<br />
Dann zogen die Soldaten in eine Kaserne um, oberhalb<br />
der Chaussee (so nannte man die Dorfstraße, die nach Waldenburg<br />
führte).<br />
56 durchblick 4/<strong>2013</strong>