SOCIETY 371 / 2017
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RUSSLAND<br />
PORTRÄT<br />
Russland, Brücke zwischen<br />
Europa und Asien<br />
Der Präsident der Ökumenischen Stiftung Pro Oriente, Johann<br />
Marte, ist ein ausgewiesener Kenner Russlands. Der einstige<br />
Diplomat in Moskau und spätere Direktor der Wiener Nationalbibliothek<br />
blieb Russland ein Leben lang verbunden. „Russland<br />
bildet eine Brücke zwischen Europa und Asien“, so Marte.<br />
Sein besonderer Bezug zu Literatur<br />
und Geschichte und<br />
im Besonderen zu den Kulturschaffenden<br />
haben Marte<br />
bereits in der Sowjet-Ära die<br />
russische Volksseele und Tradition<br />
nahe gebracht. Er kennt Russland<br />
einst und jetzt. Aus seinen Erfahrungen<br />
und Begegnungen heraus liefert der Jurist<br />
und Wissenschafter einen durchaus<br />
kritischen Befund, wenn es um einen<br />
Ost-West-Vergleich geht.<br />
Die aktuelle politische Situation weckt<br />
nach den Worten Martes Besorgnis, dass<br />
Russland von Europa abrücken könnte.<br />
Die Sanktionen des Westens nach der<br />
Besetzung der Krim durch die russische<br />
Armee hätten „Öl ins Feuer des Hasses<br />
gegen den Westen gegossen“, beschreibt<br />
der Experte drastisch die Emotionen, die<br />
als Reaktion darauf im russischen Volk<br />
hochgingen. Die Medien hätten mitgespielt<br />
und die Ablehnung des Westens<br />
gespiegelt wie nie zuvor.<br />
In der Herangehensweise sieht der<br />
Präsident der Stiftung, der gerade wieder<br />
russische Besucher in Wien empfangen<br />
hat, große Unterschiede. Der Westen<br />
zeichne sich durch „eine nüchterne Rationalität“<br />
aus, der Osten hingegen durch<br />
„Intuition“, mit einem orientalischen<br />
Touch, wie er es formuliert.<br />
•<br />
Medien schüren Ängste<br />
Die Betrachtung der Geschichte zeige:<br />
Die Mächtigen machten in Russland mit<br />
dem Volk immer, was sie wollten, so Martes<br />
ungeschminktes Urteil. Propaganda<br />
habe bis heute eine starke Wirkung, vieles<br />
werde aufgebauscht. „Die Russen sollten<br />
sich mehr an der Realität draußen orientieren.<br />
Die Medien operieren mit Ängsten.“<br />
So werde gerade in schwierigen Zeiten versucht,<br />
das Volk zusammenzuhalten.<br />
Der Kultur- und Religionsexperte<br />
pflegt viele Kontakte mit Russland. „Wir<br />
schämen uns“, hätten ihm liberale, gebildete<br />
russische Freunde gesagt, wenn sie<br />
schilderten, wie emotional aufgeladen<br />
die Presse sei, vor allem gewisse Fernsehkanäle.<br />
In Talkshows komme es zu Auftritten<br />
wütender Menschen. Der emotionalisierte<br />
politische Diskurs habe Formen<br />
angenommen, die Angst erzeugen.<br />
Das Phänomen des Populismus werde<br />
nicht so benannt, auch nicht in den Medien,<br />
doch es gebe ihn natürlich. Aus der<br />
Geschichte heraus kann man laut Marte<br />
folgern: Eine autoritäre Führung ist ein<br />
Faktum, eine Säule der Macht. Die Zaren<br />
Johann Marte mit<br />
Gerald Hinteregger<br />
(1978-81 österreichischer<br />
Botschafter in<br />
Moskau)<br />
übten absolute Macht aus, was das Volk<br />
als von Gott gegeben hinnahm. Von dieser<br />
Grundeinstellung sei noch etwas vorhanden:<br />
„Das Volk schaut nach Moskau.“<br />
Zugleich sehe es auch, dass große Korruption<br />
herrscht, dass es Lügen und Bereicherung<br />
auf allen Ebenen gebe. „In der Bevölkerung<br />
regt sich Unmut.“<br />
•<br />
Bewunderung für China<br />
Außenpolitisch ortet der Russland-<br />
Experte die Tendenz einer gewissen Hinwendung<br />
Moskaus zur aufstrebenden<br />
Regionalmacht China. Der große Wirtschaftsaufschwung<br />
des asiatischen Nachbarn<br />
werde in Russland bewundert. Doch<br />
erkenne man eine Gefahr darin, dass<br />
nicht nur in Sibirien, sondern auch in<br />
Fotos: johann marte, kathbild/F.J.Rupprecht<br />
48 | <strong>SOCIETY</strong> 1_<strong>2017</strong>